21 Zahlungsbilanz

Nikolaus Wolf

Die Zahlungsbilanz spiegelt Deutschlands wirtschaftliche Verflechtung mit der Welt wider. Sie zeigt die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit und zugleich die wachsende Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom Ausland während der letzten 130 Jahre. Die Ausbeutung Europas durch Nazi-Deutschland wird ebenso sichtbar wie deutsche Entwicklungshilfe nach 1945 und die enorme Internationalisierung der deutschen Wirtschaft während der letzten Jahrzehnte.

Die Zahlungsbilanz fasst (nahezu) alle wirtschaftlichen Transaktionen eines Landes mit dem Ausland systematisch zusammen. Seit dem Zweiten Weltkrieg folgt die amtliche Statistik in Deutschland weitgehend den Richtlinien des Balance of Payments Manual des Internationalen Währungsfonds (IWF) und erstellt die Zahlungsbilanz als System doppelter Buchungen, wobei realen Transaktionen (wie etwa Warenströmen) finanzielle Transaktionen gegenüberstehen.
Um die Zahlungsbilanz interpretieren zu können, müssen zunächst einige grundlegende Zusammenhänge und Konventionen geklärt werden. Zunächst ergibt sich aus der doppelten Buchführung, dass der Saldo der Zahlungsbilanz aus beiden Seiten der Buchführung immer ausgeglichen ist, ihre Teilbilanzen dagegen Salden aufweisen können, die nicht Null sind. Im Folgenden wird die Entwicklung der Zahlungsbilanz anhand ihrer wichtigsten Teilbilanzen vorgestellt. Auf der einen Seite steht die Leistungsbilanz, die grundsätzlich alle Ausgaben und Einnahmen einer Volkswirtschaft aus außenwirtschaftlichen Beziehungen erfasst. Auf der anderen Seite steht die Kapitalbilanz im weiteren Sinn, die alle finanziellen Transaktionen abbildet. Diese beiden Teilbilanzen werden wiederum aufgegliedert. Die Leistungsbilanz soll hier in Handels-, Dienstleistungs- und Übertragungsbilanz gegliedert werden, die Kapitalbilanz im weiteren Sinn in die Kapitalverkehrsbilanz (bzw. Kapitalbilanz im engeren Sinn), die Devisenbilanz (bzw. Reservebilanz) und schließlich einen Restposten der statistisch nicht aufgliederbaren Transaktionen, der für den Ausgleich der Zahlungsbilanz sorgt.
Es ist Konvention, den Export von Gütern und Dienstleistungen in den Bilanzen mit einem positiven Vorzeichen („+“) zu versehen, den Export von Kapital jedoch mit einem negativen Vorzeichen, weil er als Erwerb von Forderungen gegenüber dem Ausland betrachtet wird. Ähnlich wird ein Zuwachs an Devisen mit einem negativen Vorzeichen gekennzeichnet. In der Regel wird einem Strom von Gütern und Dienstleistungen über die Grenzen eine Zahlung in Form von Devisenübertragungen (Austausch von inländischen und ausländischen Wertpapieren, zum Beispiel Wechseln, Banknoten oder Bargeld) in entgegengesetzter Richtung gegenüberstehen. Bei einem Überschuss in der Leistungsbilanz werden zum Beispiel mehr Forderungen als Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland angesammelt. Meist werden diese entweder als Kredit gewährt, was in der Kapitalbilanz als Kapitalexport verbucht würde, oder es erfolgt eine Zahlung in Form von Devisen (oder Edelmetallen), was als Zuwachs der Devisenreserven verbucht würde. Damit ergibt sich ein weiterer Zusammenhang: Tendenziell wird einem Saldo der Leistungsbilanz ein vergleichbarer Saldo aus Kapital- und Devisenbilanz gegenüberstehen. Und noch eine letzte Konvention: Zahlungen, denen keine direkte Gegenleistung in Form von Waren oder Dienstleistungen gegenübersteht, werden zunächst in der Kapitalbilanz verbucht und in der sogenannten Übertragungsbilanz gegengebucht. Ebenso verfährt man mit „Schenkungen“ von Gütern und Dienstleistungen, aus denen keine Forderungen bzw. Verbindlichkeiten entstehen. Sie werden zunächst in der Handels- oder Dienstleistungsbilanz verbucht und in der Übertragungsbilanz gegengebucht. Reparationszahlungen, die nach dem Ersten Weltkrieg eine besondere Rolle spielten, sind getrennt von dieser Übertragungsbilanz aufgeführt. Auf weitere Details und eine tiefere Aufgliederung der Kapitalbilanz, die in modernen Zahlungsbilanzen üblich ist, wird hier verzichtet, zumal dies für Deutschland ohnehin nur für wenige Jahre der Zwischenkriegszeit und wieder ab 1949 möglich wäre.
Die Zahlungsbilanz ist von fundamentaler Bedeutung, um die Entwicklung einer Volkswirtschaft beschreiben und verstehen zu können. Zum einen gilt die Leistungsbilanz als Indikator der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, da sie misst, in welchem Umfang aus dem Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Übertragungen mit dem Ausland ein Überschuss erwirtschaftet wurde. Zugleich zeigt die Zahlungsbilanz aber auch, welche Abhängigkeiten zwischen einer Volkswirtschaft und dem Ausland bestehen, etwa als Handelspartner, als Schuldner oder Gläubiger, und jenseits marktwirtschaftlicher Beziehungen als Ausbeuter oder Entwicklungshelfer. Aus der Entwicklung der deutschen Zahlungsbilanz lässt sich somit ein großer Teil der wirtschaftlichen wie auch politischen Geschichte Deutschlands ablesen.

Vom Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg: Wachstum und Krise

Tabelle 1 fasst die wichtigsten Teilbilanzen der Zahlungsbilanz 1883 bis 2010 zusammen, wobei alle Angaben zur besseren Vergleichbarkeit in Euro umgerechnet wurden. Im Folgenden geht der Beitrag in aller Kürze auf einige Entwicklungen ein, die wichtige wirtschaftliche und politische Zusammenhänge der deutschen Wirtschaftsgeschichte deutlich machen.
Zunächst fällt auf, dass das Deutsche Reich bis in die 1920er Jahre eine durchwegs negative (passive) Handelsbilanz aufwies, zugleich aber nach Schätzungen umfangreiche Kapitalexporte und seit 1886 kontinuierlich zunehmende Devisenreserven, die jeweils mit negativem Vorzeichen verbucht werden. Da der Saldo der Zahlungsbilanz gleich Null ist, ergeben sich unter der Annahme, dass Übertragungen und Restposten vernachlässigt werden können, eine positive (aktive) Dienstleistungsbilanz und eine insgesamt aktive Leistungsbilanz für die 30 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Torp1 schätzt, dass der größte Beitrag zu dieser positiven Dienstleistungsbilanz auf Erträge umfangreicher deutscher Direkt- und Portfolioinvestitionen im Ausland zurückzuführen ist.2 Darin spiegelt sich der enorme wirtschaftliche Aufschwung nach der Gründerkrise bis zum Ersten Weltkrieg wider, der zu stetig steigenden Einkommen und Vermögen führte und Deutschland zum industriellen Kernland des Kontinents werden ließ. Außerdem weisen diese Daten auf ein Konfliktpotenzial mit Handelspartnern wie etwa Russland hin, die gegenüber Deutschland in einer Schuldnerposition waren. Daher versuchten diese Länder einen Überschuss ihrer Handelsbilanz mit Deutschland zu erreichen, um Kredite bedienen und Schulden abbauen zu können. Angesichts der passiven Handelsbilanz des Deutschen Reichs waren so die Handelskonflikte mit Russland (etwa der „Handelskrieg“ 1893/94) klar angelegt.3
In der Zeit nach 1918 setzten sich diese Entwicklungen in der Handels- und Dienstleistungsbilanz zunächst fort. Bis 1929 blieb Deutschlands Handelsbilanz passiv, die Dienstleistungsbilanz dagegen aktiv. Zudem wurde aber die deutsche Leistungsbilanz durch eine deutlich negative Übertragungsbilanz und Reparationszahlungen belastet. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Reparationszahlungen offenbar nur zu einem geringen Teil aus Überschüssen der Handels- und Dienstleistungsbilanz finanziert wurden, sondern stattdessen bei einer bis 1929 insgesamt stark negativen Leistungsbilanz aus US-amerikanischen Kapitalimporten geleistet wurden. Stephen A. Schuker sprach in diesem Zusammenhang von „American Reparations to Germany“. Seit 1925 wurden substanzielle Kapitalimporte registriert, die bereits 1928 zurückgingen, um dann 1931 dramatisch einzubrechen. Weitere Aspekte werden aus der Zusammenfassung der Daten in Tabelle 1 nicht deutlich, gehen aber aus Abbildung 1 hervor. Zunächst führt die Weltwirtschaftskrise zu einer außenwirtschaftlichen „Entflechtung“, sichtbar an dem Schrumpfen nahezu aller Teilbilanzen. Nicht nur der Außenhandel, auch der Austausch von Dienstleistungen und grenzüberschreitende Kapitalmarktbeziehungen brachen ein. Durch die Autarkiepolitik der Nationalsozialisten wurde die Entflechtung weiter vorangetrieben. Die Devisenbilanz war in der Zwischenkriegszeit anders als im Kaiserreich überwiegend passiv, es flossen Devisen ins Ausland ab (positives Vorzeichen). Das Jahr 1931 sticht hier besonders hervor, als es zu einer regelrechten Kapitalflucht aus Deutschland kam.4 ► Tab 1, Abb 1

Nach dem stetigen Devisenabfluss und der Kapitalflucht 1931 befand sich das Deutsche Reich in einer akuten Devisenkrise, der man mit einem restriktiven System der Devisenbewirtschaftung zu begegnen versuchte. Dies erschwert auch die Interpretation der Zahlungsbilanz, weil etwa Einnahmeüberschüsse aus Exporten nicht mehr frei verwendet werden konnten, oder weil nach Einführung der sogenannten Transfersperre Zinsen auf Auslandsschulden nicht mehr vollständig in der Devisen- oder Kapitalbilanz verbucht wurden.5 Nach einer kurzlebigen Verbesserung der Leistungsbilanz 1936/37 kam es 1938 erneut zur Krise, hervorgerufen durch den internationalen Konjunktureinbruch von 1938. Mit dem „Anschluss“ Österreichs zeigte sich dann erstmals ein Phänomen, dass die deutsche Zahlungsbilanz in den Kriegsjahren kennzeichnen sollte, nämlich der substanzielle Zufluss von Kapital und Devisen aus Nachbarländern. Zwar geht aus der Kapitalbilanz für 1938 ein Netto-Abfluss an das Ausland hervor, der im Wesentlichen durch das Defizit der Leistungsbilanz hervorgerufen wurde. Aber durch die Vereinnahmung der Gold- und Devisenbestände der österreichischen Nationalbank und den Einzug privater Bestände konnten die Devisenbestände der Reichsbank trotz der passiven Leistungsbilanz sogar gesteigert werden. Ritschl6 zeigt, dass die umfangreiche Beschlagnahmung von Vermögen aus Frankreich, Polen und anderen Staaten einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Zahlungsbilanz während des Krieges lieferte.

Die Entwicklung seit 1945: wachsende Überschüsse und Handlungsspielräume

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dieses Bild grundlegend. Die Bundesrepublik exportierte nun durchweg mehr als sie importierte, die Handelsbilanz wurde deutlich aktiv und blieb es ab 1952. Die Dienstleistungsbilanz dagegen wurde ab 1971 (von wenigen Jahren abgesehen) passiv, was nicht zuletzt auf zunehmende Defizite aus dem Reiseverkehr in das europäische Ausland zurückzuführen ist. Trotz negativer Übertragungsbilanz wies die Bundesrepublik damit seit 1951 einen positiven Leistungsbilanzsaldo auf, der mit kurzer Unterbrechung in der zweiten Ölkrise bis zur Wiedervereinigung 1990 bestehen blieb. Dem standen spiegelbildlich in den 1960er Jahren und deutlich in den 1980er Jahren umfangreiche Kapitalexporte und seit den 1950er Jahren eine substanzielle Akkumulation von Devisenreserven gegenüber.
Wie konnte es dazu kommen? Der wirtschaftliche Wiederaufstieg Deutschlands nach 1945 kann im Wesentlichen erklärt werden mit der Rekonstruktion der Infrastruktur bei einem überraschend unversehrten industriellen Kapitalstock nach dem Krieg, der Zunahme an Arbeitskräften durch Flucht und Vertreibung und Konvergenzwachstum (also Wachstum im Pro-Kopf-Einkommen durch Angleichung an reichere Volkswirtschaften wie die USA).7 Diese Entwicklung war allerdings von einem im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Wachstum der Arbeitsproduktivität bei stabilen Preisen begleitet. Seit Herbst 1949 stiegen die westdeutschen Exporte (beinahe) kontinuierlich an, was auch durch den Prozess der Europäischen Integration, den Abbau von Handelsbarrieren im Rahmen des GATT und das stabile Währungssystem von Bretton Woods gefördert wurde. Zwar kam es 1950/51 zu einer Krise, als die Leistungsbilanz durch eine Verschlechterung der Terms of Trade infolge des Korea-Booms passiv wurde und die junge Bundesrepublik noch einmal eine ernsthafte Devisenkrise erlebte. Durch internationale Kooperation im Rahmen der Europäischen Zahlungsunion und vor allem aber durch das solide Wachstum der Exporte konnte die Krise in wenigen Monaten überwunden werden.
Der folgende nahezu permanente Überschuss der Handelsbilanz (und bis 1970 auch in der Dienstleistungsbilanz) gab der Bundesrepublik weitreichenden außenpolitischen Handlungsspielraum, um ihr politisches Gewicht nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu erhöhen. Zu nennen sind hier umfangreiche Entwicklungshilfen, die Zahlung von „Wiedergutmachung“ und Beiträge an internationale Organisationen wie EWG, IWF, NATO, die OECD oder die UNO (sichtbar in der durchweg negativen Übertragungsbilanz).8 Mitte der 1960er Jahre begann sich das internationale Umfeld zu verändern, aber die deutsche Wirtschaft passte sich dem erfolgreich an. Zum einen endete der Nachkriegsboom, zum anderen geriet das System von Bretton Woods mit fixen Wechselkursen durch stark unterschiedliche Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten zunehmend unter Anpassungsdruck. Die Bundesrepublik erlebte 1966/67 einen kurzen aber tiefen Konjunktureinbruch, der von einer negativen Leistungsbilanz und dem Abfluss von Kapital und Devisen begleitet war. Die Versuche durch eine „makroökonomische Globalsteuerung“ innerhalb eines Systems fixer Wechselkurse darauf zu reagieren, waren allerdings für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie die Bundesrepublik zum Scheitern verurteilt. In Folge des internationalen Konjunktureinbruchs (unter anderem ausgelöst durch starke Schwankungen des Ölpreises) war die Leistungsbilanz zwischen 1979 und 1981 stark passiv. Dennoch ging die Bundesrepublik aus den währungspolitischen Turbulenzen, bei dem auch das System von Bretton Woods zerbrach, nicht nur unbeschadet, sondern sogar gestärkt hervor.

Zu den Ursachen: Europäische Integration und Produktivitätswachstum

Die Entwicklungen in der Zahlungsbilanz seit 1982 sind in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Während die Dienstleistungsbilanz langfristig negativ blieb, aber die Defizite abnahmen, setzte der Saldo der Handelsbilanz zu einem deutlichen Wachstum an, wiederum begleitet von einem kräftig zunehmenden Auslandsvermögen. Anders als zuvor war diese internationale wirtschaftliche Expansion aber nicht von hohen Wachstumsraten der Wirtschaft im Inland begleitet. Vor allem die deutsche Industrie eroberte international beständig Marktanteile, was sowohl auf Entwicklungen innerhalb Deutschlands wie auch auf Entwicklungen bei den Handelspartnern zurückzuführen ist. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung von Leistungsbilanz, Kapital- und Devisenbilanz (jeweils per Saldo) als Anteil des Bruttoinlandsprodukts von 1883 bis 2010. Die Entwicklung seit 1982 – unterbrochen von der Zeit der Wiedervereinigung bis zur Einführung des Euro – ist im langfristigen Vergleich ungewöhnlich. ► Tab 2, Abb 2

Die Hintergründe werden zum Teil aus einer Betrachtung der regionalen Entwicklung deutlich: Wo erwirtschaftete die Bundesrepublik Deutschland diese gewaltigen Leistungsbilanzüberschüsse? Wohin flossen die deutschen Kapitalexporte? Es macht Sinn, die Entwicklung bis 1989 in zwei Perioden zu untergliedern.9 Bis etwa 1985 wurde die Zunahme der Leistungsbilanzüberschüsse nahezu vollständig vom wachsenden Handelsüberschuss gegenüber den USA getragen. Das wiederum lässt sich durch einen Wachstumsschub in den USA und eine Aufwertung des Dollar erklären, wodurch deutsche Produkte wie Autos, Maschinen, elektrotechnische oder chemische Erzeugnisse Marktanteile in den USA gewinnen konnten, während Importe aus den USA stagnierten. In der Zeit ab 1985 setzten sich die Leistungsbilanzüberschüsse fort, nun aber getragen von wachsenden Handelsüberschüssen mit Westeuropa und den ölexportierenden OPEC-Staaten: Dahinter stand ein deutlicher Verfall der Energiepreise (auch gestützt von einer Abwertung des Dollars), was die Handelsbilanz mit den europäischen Energielieferanten Großbritannien, Niederlande und Norwegen veränderte. Außenwirtschaftliche Impulse trugen also zum deutschen Leistungsbilanzüberschuss der 1980er Jahre bei, aber sie erklären nicht alles. Darüber hinaus nahm die Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Industrie gegenüber fast allen europäischen Handelspartnern zu, was mit Preisvorteilen durch eine relativ geringe Inflation und ein solides Produktivitätswachstum erklärt werden kann. Ein Teil dieses Produktivitätswachstums wurde von der erfolgreichen Internationalisierung der deutschen Wirtschaft – auch durch die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft und eine Liberalisierung der Kapitalmärkte – getragen, die durch Direktinvestitionen und die Verlagerung von Produktionsstufen ihre Kosten weiter senken konnte. Ein Beispiel sind die umfangreichen Investitionen von Volkswagen in Spanien in dieser Zeit. Die Kapitalexporte waren also nicht nur der Spiegel der Leistungsbilanzüberschüsse, sondern konnten diese zumindest zeitweilig selbst verstärken, etwa weil sie dazu beitrugen, die Produktionskosten im Inland zu senken.10
Die Dekade nach der Wiedervereinigung ab 1990 scheint diese Entwicklungen im Rückblick nicht zu beenden, sondern lediglich zu unterbrechen. Unter anderem bremste die verstärkte Nachfrage ostdeutscher Verbraucher nach westdeutschen Produkten das Wachstum der Handelsüberschüsse und führte zu einer zeitweilig negativen Leistungsbilanz, begleitet von Kapitalimporten. Bereits 1994 wuchs der Saldo der Handelsbilanz aber wieder, die Leistungsbilanz wurde jedoch erst mit Einführung des Euro wieder positiv und erreichte – auch im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt – unbekannte Höhen.
An dieser Stelle soll kurz auf die Entwicklung der Zahlungsbilanz der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verwiesen werden. Die Deutsche Bundesbank hat 1999 eine Zahlungsbilanz der DDR für die Jahre 1975 bis 1989 in Anlehnung an das Balance of Payment Manual des IWF vorgelegt. Tabelle 3 fasst die Ergebnisse umgerechnet in Euro zusammen. Die Zahlen zeigen weitgehend ausgeglichene Teilbilanzen (wobei den außenwirtschaftlichen Beziehungen mit dem Sozialistischen Wirtschaftsgebiet (SW) eine deutlich größere Rolle zukam), weisen aber auch auf Schwierigkeiten hin. Der Vorzeichenwechsel der Leistungsbilanz 1981/82 etwa resultierte aus einer scharfen Liquiditäts- und Devisenkrise, die zu verstärkten Exportanstrengungen und Exporterfolgen führte. Mit sinkenden Erdölpreisen ab 1986 begann sich die außenwirtschaftliche Lage der DDR gegenüber dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) wieder zu verschlechtern, auch wenn die Verschuldung gegenüber dem NSW bis 1989 vermutlich noch kein kritisches Niveau erreicht hatte.11 ► Tab 3

Aus Abbildung 3 wird die regionale Aufteilung wichtiger Teilbilanzen für das vereinte Deutschland 2007 bis 2010 ersichtlich.12 Während mit der Finanz- und Staatsschuldenkrise der deutsche Leistungsbilanzüberschuss mit anderen europäischen Staaten, insbesondere dem Euro-Raum, leicht zurückging, blieb er gegenüber Amerika (vor allem den USA) stabil. Zudem ging das Defizit mit Asien zurück. Da sich der Euro im Zuge der Krise gegenüber anderen wichtigen Währungen tendenziell abschwächte, konnte die deutsche Industrie außerhalb Europas weiter Marktanteile gewinnen, was sich nach 2010 verstärkt fortsetzte.► Abb 3

Gespiegelt wird dies erneut in massiven Kapitalexporten, die ebenfalls in Relation zum BIP historische Rekordwerte erreichen. Zeitweilig überlagert von den Folgen der deutschen Wiedervereinigung, hatte auch in den 1990er Jahren die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft deutlich zugenommen, die sich aber weiterhin auf den europäischen Wirtschaftsraum konzentrierte. Von allen deutschen Direktinvestitionen im Ausland 2010 wurden knapp über 70 Prozent in anderen europäischen Staaten getätigt und knapp 16 Prozent in den USA. Während Deutschland also weiterhin hohe Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber seinen europäischen Nachbarn aufweist, die geradezu traditionell Gegenstand der Diskussion sind, fließt umgekehrt auch der Großteil der deutschen Auslandsinvestitionen nach Europa, während Investitionen etwa in Asien – zumindest bisher – noch eine untergeordnete Rolle spielen. Die deutsche Wirtschaft hat sich nach 1945 in einem nie dagewesenen Ausmaß internationalisiert, den Schwerpunkt aller außenwirtschaftlichen Beziehungen bildet dabei weiterhin Europa.

Datengrundlage

Die Zahlungsbilanz ist eine Tertiärstatistik, die auf der Zusammenstellung zahlreicher anderer Statistiken basiert. Allem voran sind hier die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR, siehe Kapitel 13) und die Außenhandelsstatistik (siehe Kapitel 20) zu nennen.
Eine vollständige Zahlungsbilanz für das Deutsche Reich wurde erstmals 1924 vom Statistischen Reichsamt vorgelegt, mit dem Jahr 1935 wurde deren Erscheinen aber auch bereits wieder eingestellt. In der Bundesrepublik übernahm 1949 die deutsche Notenbank diese Aufgabe (zunächst die Bank deutscher Länder, ab 1957 Deutsche Bundesbank). Die Deutsche Bundesbank erstellte 1999 eine vergleichbare Zahlungsbilanz für das Gebiet der DDR für die Zeit 1975 bis 1989, ab Juli 1990 liegt schließlich eine gesamtdeutsche Zahlungsbilanz vor. Zusammenfassende Übersichten der Zahlungsbilanz der Bundesrepublik und des vereinten Deutschland finden sich in den Gutachten und statistischen Übersichten des Sachverständigenrats. Für die Periode 1950 bis 1993 wurden hier die Zusammenstellungen nach dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verwendet.13 Für die Periode 1994 bis 2011 wurde die Zusammenstellung im Internet verwendet.14
Für die deutsche Zahlungsbilanz vor 1949 / 50 sind dagegen die amtlichen Angaben unvollständig, sie wurde von Wirtschaftshistorikern geschätzt. Die Zahlungsbilanz für das Deutsche Reich für den Zeitraum 1883 bis 1913 wurde aus Angaben der Handelsbilanz, Daten zum Handel mit Edelmetallen und aus einigen wenigen Angaben über den Kapitalverkehr mit dem Ausland geschätzt. Grundlegend sind dazu die Arbeiten von Walther G. Hoffmann15 und Cornelius Torp.16 Insbesondere die dort vorgelegten Schätzungen zur Dienstleistungsbilanz unterliegen großer Unsicherheit, weil sie als Saldo aus der Handelsbilanz und wiederum geschätzten Daten der Kapital- und Devisenbilanz ermittelt wurden.
Die Zahlungsbilanz für die Zeit zwischen den Weltkriegen wurde von der amtlichen Statistik nur bis 1935 veröffentlicht. Die Daten für die Zeit nach 1935 hat Albrecht Ritschl auf Grundlage der Bestände des Bundesarchivs detailliert nachgezeichnet.17

Zum Weiterlesen empfohlen

  • Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 460, Bonn 2004.
  • Peter Bernholz: Die Bundesbank und die Währungsintegration in Europa, in: Deutsche Bundesbank, Fünfzig Jahre Deutsche Mark, München 1998, S. 773 – 833.
  • Christoph Buchheim: Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen im Spiegel der Zahlungsbilanz, 1945 –1970, in: Francia, Beihefte, Bd. 42, 1997, S. 85 –100.
  • Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Januar 1991. Die längerfristige Entwicklung der deutschen Zahlungsbilanz nach Regionen, Frankfurt am Main 1991.
  • Deutsche Bundesbank: Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Frankfurt am Main, 1999.
  • Herbert Giersch / Karl-Heinz Paque / Holger Schmieding: The Fading Miracle. Four decades of market economy in Germany, Cambridge 1992.
  • Volker Hentschel: Die Europäische Zahlungsunion und die deutschen Devisenkrisen 1950 / 51, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989), 4, S. 715 –758.
  • Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung: Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860 –1914, Göttingen 2005.
  • Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924 –1934.
  • Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

Anmerkungen

  1. Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung: Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860 –1914, Göttingen 2005.
  2. Torp (Anm. 1), S. 71 folgt den Schätzungen von Karl Helfferich: Deutschlands Volkswohlstand 1888 –1913, Berlin 1913, S. 112, ergänzt um eine nicht näher erläuterte Schätzung von Direktinvestitionen. Siehe dazu Friedrich Lenz: Wesen und Struktur des deutschen Kapitalexports vor 1914, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 18 (1922) 1, S. 42 – 54.
  3. Vgl. Torp (Anm. 1), S. 73.
  4. Siehe dazu Harold James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, Stuttgart 1988, S. 298ff.
  5. Zu diesen Zusammenhängen siehe vor allem Albrecht Ritschl: Die deutsche Zahlungsbilanz 1936 –1941 und das Problem des Devisenmangels vor Kriegsbeginn, Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte, 39 (1991) 1, S. 103 –123.
  6. Ebd.
  7. Siehe dazu die vergleichende Studie von Tamas Vonyo: Post-war Reconstruction and the Golden Age of Economic Growth, in: European Review of Economic History, 12 (2008) 2, S. 221– 241.
  8. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 460, Bonn 2004, S. 262f.
  9. Zum Folgenden vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Januar 1991. Die längerfristige Entwicklung der deutschen Zahlungsbilanz nach Regionen, Frankfurt a. M. 1991.
  10. Schon in den 1960er Jahren wurde der Zusammenhang zwischen Überschüssen der Handelsbilanz und Netto-Kapitalexporten der Bundesrepublik intensiv diskutiert. Albert Hahn (1960) sprach hier von einem „Bumerang-Effekt“, vgl. Albert Hahn: Geld und Kredit. Währungspolitische und konjunkturtheoretische Betrachtungen, Frankfurt a. M. 1960, S. 127ff. und 269ff.
  11. Deutsche Bundesbank: Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Frankfurt a. M. 1999.
  12. Deutsche Bundesbank: Zahlungsbilanz nach Regionen, Juli 2011.
  13. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Jahresgutachten 1994 /95. Den Aufschwung sichern – Arbeitsplätze schaffen, Stuttgart 1994.
  14. www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/zr_deutschland.html (16.10. 2014).
  15. Walther G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u. a. 1965, S. 816 – 824.
  16. Torp (Anm. 1), S. 67– 73.
  17. Ritschl (Anm. 5) sowie ders.: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924 –1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002.