Paul Erker
Statistische Daten zur historischen Entwicklung von Klima, Umwelt und Natur wurden vereinzelt schon im 18. Jahrhundert gesammelt, als systematische Erhebungen oder Rückberechnungen liegen sie erst in jüngster Zeit vor. Die Umwelthistoriker stehen vielfach noch am Anfang, dieses Datenmaterial auszuwerten und für ihre Forschungen zu verwenden. Die große Ära der Umweltstatistik und die damit mögliche Erforschung umweltrelevanter Indikatoren in historischer Perspektive hat erst begonnen.
Die historische Forschung speist sich aus den gegenwärtigen Problemen, das zeigt sich wie kaum sonst im Bereich der Umweltgeschichte. Befinden wir uns in einem ökologischen Zeitalter? Bedrohen Umweltkrisen und Umweltmigration in globaler Dimension unsere ökonomische, gesellschaftliche und politische Stabilität? Wie kann die Gesellschaft den großen Übergang zur Nachhaltigkeit in der Industrieproduktion wie im Konsum bewältigen? Die historische Rekonstruktion der jeweiligen Umweltbedingungen und deren Veränderungen, in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend durch Einflussnahme des Menschen verursacht, sind dabei vergleichsweise spät in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt. Dabei entwickelten sich verschiedene Herangehensweisen, sei es als Geschichte der Nutzung und Überformung der natürlichen Umwelt und ihrer Ressourcen, als Untersuchung der Natur als historischem Akteur und kultureller Herausforderung oder als Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur. Lange Zeit war in der Umweltgeschichte ein „declensionist narrative“ vorherrschend, das heißt, sie wurde als eine Geschichte der Zerstörung, Ausbeutung und Verschmutzung sowie als Konfliktgeschichte oder Geschichte der industriell bedingten Umweltkatastrophen erzählt und erforscht. Aber das ist nur eine Seite der Medaille.
Spezifika des Datenmaterials
Es gibt einige Spezifika hinsichtlich des umwelthistorischen Datenmaterials. Erstens entziehen sich Naturprozesse, Umweltverhältnisse und Klimaveränderungen dem nationalstaatlichen Rahmen; sie sind grenzüberschreitend und oftmals global. Nach wie vor finden umwelthistorische Analysen in nationalstaatlicher Perspektive statt; die Konstruktion von nationalen Identitäten war ohne Zweifel oft eng an Naturvorstellungen und Naturerfahrungen geknüpft.1 Der Nationalstaat ist einer der wichtigsten Akteure bei der Transformation von Landschaften. Dennoch ist Umweltgeschichte sozusagen auf natürliche Weise grenzüberschreitend und transnational. Dies gilt es bei der Erhebung und Interpretation nationaler statistischer Daten zu bedenken. Zweitens weist die Rekonstruktion von Daten vergangener Naturzustände und deren Kontextualisierung, Verknüpfung, Interpretation und Interdependenz eine deutliche Diskrepanz hinsichtlich der Zeithorizonte auf. Teilweise reichen die Daten insbesondere zu Klima, das heißt zu Temperatur, Niederschlägen etc., weit ins 18. Jahrhundert zurück, während jedoch gleichzeitig die eigentliche neue Ära der systematischen Umweltstatistik erst in den 1990er Jahren einsetzt. Insofern ergeben sich drittens vielfältige, höchst unterschiedliche Periodisierungen. Auf der einen Seite stehen etwa die großen globalklimatischen Schwankungen zwischen Eiszeiten und Wärmeperioden wie die hochmittelalterliche Warmzeit zwischen 1000 und 1300, gefolgt von der Kleinen Eiszeit zwischen 1400 und 1870, mit ihrem Höhepunkt am Ende des 17. Jahrhunderts. Sie kann als eine Art Testlauf für die folgende Phase der globalen Erwärmung angesehen werden, lehrt sie uns doch, dass bereits geringe Veränderungen des Klimas zu enormen sozialen, politischen und religiösen Erschütterungen führen.2 Seit etwa 1890 steigen dann aber die mittleren Jahrestemperaturen an, allerdings seit den 1990er Jahren mit deutlicher Zunahme und damit einer massiven Beschleunigung der globalen Erwärmung.3 Auf der anderen Seite gibt es kleinteilige, stark politisch entwickelte Zäsuren und Entwicklungsphasen der deutschen Umweltgeschichte, beginnend mit dem Umbruch von natürlicher Umwelt und Landschaft infolge von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum in den 1850er Jahren. Das Kaiserreich erscheint hier als Scharnierphase, in der sich einerseits die einzelnen Problemlagen zu chronischen Krisensituationen verdichteten, andererseits bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten Strukturen und Praktiken entstanden, die das Mensch-Umwelt-Verhältnis in Deutschland bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägten. Die Phase von Weimarer Republik und NS-Zeit bekommt hier eine eher geringe Bedeutung, ehe spätestens in den 1960er Jahren eine neue ökologische Phase begann, in der seit den 1970er Jahren die wachsende Kritik an Landschafts-, Ressourcen- und Energieverbrauch in eine umweltpolitische Boomzeit und gleichzeitige Ökologisierung der Gesellschaft mündete.4 Viertens schließlich spielten, anders als in den übrigen Bereichen der historischen Statistik, quantitative Daten zu Klima, Umwelt und Natur in der deutschen umwelthistorischen Forschung bislang eher eine untergeordnete Rolle, weil sie bislang schlichtweg nicht systematisch erhoben und zusammengestellt wurden, insbesondere was weiter zurückreichende Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert (und erst recht davor) angeht. Insofern musste für die vorliegende Zusammenstellung vielfach Grundlagenarbeit geleistet werden.
Klimatologische Aufzeichnungen zu Temperatur und Niederschlägen
Die ältesten klimatologischen Aufzeichnungen in Deutschland reichen bis 1781 zurück und wurden auf dem Hohenpeißenberg in Bayern mit täglichen Temperaturmessungen vorgenommen.5 Dabei zeigt sich 1890 im langfristigen Trend der mittleren Jahrestemperatur ein Schnitt von zwei signifikanten Entwicklungen. In den Jahren bis 1890 lässt sich ein langer Temperaturrückgang erkennen. Mit dem Ausklingen der „Kleinen Eiszeit“ setzte danach eine lange und bis in die Gegenwart anhaltende Phase deutlich steigender Jahresmitteltemperaturen ein. ► Tab 1, Abb 1
Es gab dabei gewisse Teilphasen, das heißt einen Anstieg der Temperaturen bis etwa 1950, gefolgt von zunächst wieder tendenziell leicht zurückgehenden Jahresmittelwerten zwischen 1950 und etwa 1980, dem dann aber ein umso kräftigerer Anstieg folgte. Und es gab in einzelnen Jahren durchaus markante Ausreißer, wie 1940 mit einer extrem niedrigen Jahresmitteltemperatur von 6,6 Grad, dagegen im Jahr 2000 der bisherige Höchstwert von 9,9 Grad. Seit 1881 erfolgte in Deutschland ein Anstieg der Jahresmitteltemperatur um etwa 1,2 Grad, damit verbunden war auch eine signifikante Zunahme der jährlichen Niederschlagsmengen um gut 10 Prozent.6
Serielle Daten zur den Vegetationsperioden
Ergänzend dazu sind die ebenfalls weit zurückreichenden seriellen Daten zur Phänologie, also zu den jeweiligen Eintrittszeiten charakteristischer Vegetationsstadien einzelner Pflanzen, von zentraler Bedeutung. Die periodisch wiederkehrenden Wachstums- und Entwicklungserscheinungen geben im langfristigen Verlauf beobachtet Aufschluss über die Länge der Vegetationsperioden und deren zeitliche Verschiebung. Die ältesten Erhebungen zur „Phänologischen Uhr“ Deutschlands beginnen 1896 mit dem Beginn der Apfelblüte, die den Eintritt des Vollfrühlings anzeigt. ► Tab 2, Abb 2
Der Beginn der landwirtschaftlichen Vegetationsperiode wird durch den Blühbeginn der Salweide, das Ende durch die Blattverfärbung der Stieleiche indiziert.7 Auch andere damit im Zusammenhang stehende Datenreihen wie der jährliche Beginn der Weinlese sind dabei unter klima- und umwelthistorischer Perspektive wichtige Quellen. Die Trendaussage dieser phänologischen Daten ist jedenfalls klar: Austrieb, Blüte und Fruchtreife setzen insgesamt jeweils früher ein, während im Herbst Blattverfärbung und Blattfall später stattfinden. Die Vegetationsperioden dauern insgesamt damit länger, im Vergleich der Werte von 1950 und 2010 um etwa elf Tage, wobei es regional erhebliche Unterschiede gibt. Diese Verschiebung der phänologischen Phasen ist nicht auf die letzten Jahrzehnte beschränkt, aber sie hat sich in den letzten 20 Jahren sprunghaft verstärkt. Die Blüte der Schlehe beispielsweise setzt heute fast einen Monat früher ein als noch vor 170 Jahren. Diese „Vorverlegung des Frühjahrs“ hat nachhaltige Rückwirkungen auf die Pflanzen- und Tiermobilität: Die Verbreitungsgebiete von an Kälte angepassten Pflanzen und Tierarten verschieben sich global polwärts, während wärmeliebende Arten „nachrücken“.8
Wasserstände in Flüssen und an Küsten
Zentrale umwelt- und klimahistorisch relevante Datenreihen nehmen auf die Wasserstände in Flüssen und an den deutschen Küsten Bezug. Der enge Zusammenhang zwischen Temperaturzuwachs, Anstieg des Meeresspiegels und Ausmaß des Gletscherschwundes ist längst evident und diese Interdependenzen hinterlassen auch ihre Spuren in den historischen Veränderungen von Wasserhaushalt und Wassernutzung in Europa und in Deutschland.9 Länger zurückreichende Rekonstruktionen der Wasserführung von großen deutschen Flüssen wie dem Rhein geben jedoch auf die große Frage danach, ob sich die Häufigkeit der Hochwasser-Ereignisse in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten gesteigert hat, keine eindeutige Antwort. ► Tab 3, Abb 3
Seit etwa 1920 ist hier eine deutliche Zunahme von kritischen Pegelständen über 10 Metern zu registrieren, im Unterschied zum hochwasserarmen 19. Jahrhundert. Die Statistik zeigt eine Häufung von „Jahrhundert-Hochwassern“ innerhalb nur weniger Dekaden. In längerer Perspektive jedoch relativiert sich das wiederum. Hochwasserreiche Perioden gab es auch schon im 16. und vor allem im 18. Jahrhundert. Schneeschmelze und schwere Regenfälle, verbunden mit den gewaltigen Anstrengungen zur Rhein-Begradigung und deren Auswirkungen, verursachten in der Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Anstieg des Flusswasserpegels mit zahlreichen Überschwemmungen. Die nachteilige Wirkung von Abholzungen und Flusskorrektionen war ein heiß diskutiertes Thema in dieser Zeit.10 Auf der Gegenseite lässt sich das Auftreten von Niedrigwasserperioden mit extrem geringen Wasserpegelständen und den entsprechenden Rückwirkungen auf die Verkehrsschifffahrt nachverfolgen. Auch hier zeigt sich für den Rhein eine deutliche Zunahme für die Zeit ab 1950. ► Tab 3
Entsprechende zeitliche Veränderungen lassen sich auch für die Wasserstände an den deutschen Küsten aufzeigen.11 Die seit 1874 verfügbaren Daten spiegeln sowohl für die Ost- wie die Nordsee eine vor allem seit etwa 1955 einsetzende Änderung des Tideverhaltens wider. ► Tab 4, Abb 4
Ab diesem Zeitpunkt steigen die Tidehochwasser signifikant an, was insgesamt zu einem außerordentlich starken Anstieg des Tidehubes um ca. 10 Prozent an den jeweiligen Küstenpegeln führt. Inwieweit diese dramatische Veränderung der Tidedynamik an den deutschen Küsten mit globalen Klimaveränderungen zusammenhängt und welche längerfristigen Umwelt- und Landschaftsveränderungen vor Ort damit verbunden sind, ist dabei noch strittig.
Weitere umweltstatistische Erfassungsversuche: Wald, Emissionen, Abfall, Energieverbrauch, Erdbeben und Biomobilität
Ein Kernthema der Umweltgeschichte ist auch die Veränderung der Landnutzung, ob zu agrarischen oder forstlichen Zwecken. Die jeweiligen Datenreihen dazu finden sich in dem Beitrag von Michael Kopsidis, hier sollen dazu nur einige ergänzende Bemerkungen aus umwelthistorischer Perspektive gemacht werden. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche nahm zwischen 1878 und 1995 rasant ab, während die Waldfläche in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem mittelalterlichen Raubbau und der extensiven Waldnutzung im 17. und 18. Jahrhundert langsam wieder zunahm. Die Bedeutung des Waldes in der Frühen Neuzeit als Spender von Brenn- und Bauholz sowie als Ort der Waldweide änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Folge der Substituierung von Holz als Energiequelle durch die Steinkohle grundlegend. Die Debatte um eine Ressourcenkrise (Holznot) wurde von einer zunehmenden Vermarktung und Kapitalisierung als Folge der Durchsetzung der staatlichen Waldnutzungsinteressen und entsprechender Flankierung durch Forstwissenschaft bzw. Forstökonomie abgelöst. Gleichzeitig drangen neue Ansprüche an die Waldnutzung wie Schutz vor Naturgefahren, Erholung und Freizeit sowie Naturschutz in den Vordergrund. Periodische Waldinventuren mit entsprechenden Datenkatalogen zur Holzproduktion, zum Holzeinschlag und zur Qualität und Struktur der Waldressourcen (Indikatoren des „Waldsterbens“), in denen diese Veränderungen abgebildet werden, haben in Europa eine lange Tradition. Aber erst zwischen den 1950er und 1990er Jahren vollzog sich noch einmal ein neuer Paradigmenwechsel in der Waldbewirtschaftung, ausgerichtet auf die Prinzipien von Dauerwald, naturnaher Waldwirtschaft und stabiler Mischwaldbestände.
So heterogen wie Umwelt, Klima und Natur als historische Phänomene sind, so heterogen ist auch das zugrundeliegende Gerüst aus zahllosen, zumeist erst in jüngster Zeit einsetzenden umweltstatistischen Datenreihen. Es gibt viele weitere wichtige Indikatoren zum Thema Umwelt, Klima und Natur, allen voran die vor allem durch den Menschen verursachten Emissionen verschiedener Stoffe wie CO2. (Vgl. hierzu auch den Beitrag Jörg Baten und Herman de Jong). Der klimarelevante Kohlendioxidausstoß stammt dabei zum einen aus der Nutzung fossiler Energieträger für Industrie und Verkehr, zum anderen aus der Landwirtschaft, insbesondere der Viehzucht. Die entsprechende Konzentration in der Atmosphäre ist dabei in den letzten 150 Jahren weitgehend proportional zum Verbrauch fossiler Brennstoffe angestiegen, wobei der eigentliche rasante Anstieg vor allem seit den 1950er Jahren erfolgt ist. Die Rekonstruktion der CO2-Konzentration lässt sich inzwischen mit Hilfe von Untersuchungen eingeschlossener Luftblasen in arktischen und antarktischen Eisbohrkernen bis zum Jahr 1000 und davor zurückverfolgen, jedoch können hieraus keine nationalen Daten erstellt werden. Erst ab 1990 gibt es allein auf Deutschland bezogene Erhebungen zu diesem Treibhausgas, während für andere Industrieemissionen wie Stickstoffoxide, Schwefeldioxid und Kohlenmonoxid die Statistiken immerhin bis 1970 zurückreichen. Man könnte diese allgemeinen Emissionsdaten auch durch zahlreiche, ebenfalls ab etwa den 1960er Jahren einsetzende Zeitreihen zum Ausstoß von einzelnen umweltrelevanten prekären Stoffen und chemischen Verbindungen in die Luft oder als Abwasser ergänzen, wie etwa Isocyanat, Fluorkohlenwasserstoff-Verbindungen (FCKW) sowie lösungsmittel- und chlorhaltige Stoffe. Dies führt zu Abfallstatistiken. Für einzelne Regionen und Kommunen in Deutschland lassen sich zum Teil bis ins 19. Jahrhundert zurück Daten zu Gesamtabfallaufkommen, Haus- und Industriemüllanfall, zu Klärschlammentsorgung und Verpackungsabfällen gewinnen. Wasserverbrauch und Wasserverschmutzung und nicht zuletzt Datenreihen zu Energieverbrauch und Energieproduktion (und die damit korrespondierenden Energiepreise) stellen ebenfalls wichtige quantitative wie qualitative Indikatoren der Umweltgeschichte dar. Der Langzeitblick auf Umfang und Struktur der Stromproduktion zeigt, welche Akteure wann und aus welchen Gründen auf Wasserkraft oder auf den Atomstrom setzten. Der Energieverbrauch in Deutschland ist zwischen 1840 und 2000 nicht linear gestiegen, sondern mit Brüchen und Beschleunigungs- wie Verlangsamungsphasen. Auffallend ist dennoch die enge Parallelität in der Beschleunigung der Wachstumsraten bei der Energieverwendung und der Umweltbelastung seit den 1950er Jahren. Statt nationaler Daten lassen sich aber gleichfalls eher mithilfe regionaler Statistiken, etwa zu Kohleproduktion, differenziertere und weiter zurückreichende Vorstellungen der jeweiligen Entwicklungen gewinnen.
Ein Teilbereich der Umweltgeschichte befasst sich mit der Zuspitzung auf eine Geschichte von Naturgefahren und Naturkatastrophen, auch hier gibt es relevante Datensätze, etwa zu den Erdbebenaufzeichnungen, die in Deutschland bis ins Jahr 800 zurückverfolgt und rekonstruiert werden können.12 Ob der weltweite Trend der Zunahme von Zahl und Heftigkeit der Erdbeben auch auf die seismischen Aktivitäten in Deutschland zurückwirkt, ist dabei noch völlig unklar. Dafür wird sich mittelbar eine andere statistisch messbare Entwicklung im Zusammenhang mit Naturkatastrophen auswirken: der steigende Umfang von Flucht- und Wanderungsbewegungen tausender Menschen weltweit im Zusammenhang mit Umweltkrisen und -katastrophen, Überschwemmungen, Bodenerosion, versiegenden Brunnen und versalzenen Böden und der damit verbundenen wachsenden Ungleichheit der Verteilung von umweltbezogenen Lebensgrundlagen. Die Geschichte der Mobilität der Menschen, die durch Klimawandel und Umweltkatastrophen zu Migrationsbewegungen gezwungen wurden (vgl. hierzu auch den Beitrag von Jochen Oltmer), korrespondiert dabei mit jener von Pflanzen und Tieren (Biomobilität) im Kontext von europäischer Expansion, Kolonialisierung und „kolumbianischem Austausch“. Auch hier ist die Wissenschaft erst dabei, spezifische Indikatoren und Datenerhebungsmethoden zu entwickeln. Für die Zeit ab 1970 gibt es immerhin historische Zeitreihen zu Artenvielfalt und Landschaftsqualität in Deutschland. Im Kontext der Aktivitäten der OECD werden zudem zahlreiche weitere und neue quantitative und komplex zusammengesetzte Indikatoren zu Nachhaltigkeit und Biodiversität in Deutschland entwickelt, darunter etwa die nutzbare Feldkapazität, die die Menge des im Boden vorhandenen Wassers, das den Pflanzen zur Verfügung steht, misst (Bodenfeuchte und ihre Rückwirkungen auf die Pflanze in Form von Wasserstress bzw. Übersättigung).13
Die große Ära der Umweltstatistik beginnt eigentlich erst in jüngster Zeit. Das gilt insbesondere und abschließend für die Entwicklung und Berechnung umweltökonomischer Gesamtrechnungen. Mithilfe komplexer Material- und Energieflussrechnungen wird dem engen Zusammenhang von Wachstum und Ressourcenverbrauch nachgegangen; in jüngster Zeit gibt es aber auch den Versuch, die Entkoppelung beider Größen erstmals nicht nur als eine Phrase, sondern als ein tatsächliches ökonomisches wie gesellschaftspolitisches Ziel voranzutreiben. Dies alles wird aber zugleich durch ein allenthalben für die unterschiedlichsten Interessen instrumentalisiertes „Nachhaltigkeits-Paradigma“ mehr vernebelt, als dass es (auf)klärend wirkt. Es ist daher umso wichtiger, dass künftig sehr viel mehr und weit differenzierteres umweltstatistisches Material für die historische Forschung zur Verfügung stehen wird, um damit die vielfach noch unerforschten komplexen Wechselspiele, Interdependenzen und selbstverstärkenden Effekte der vielen umweltrelevanten Indikatoren in historischer Perspektive weiter zu untersuchen.
Datengrundlage
Die beste Datengrundlage für historische Wetter- und Klimadaten in Deutschland liefert der Deutsche Wetterdienst (DWD), der seit 1952 als Bundesoberbehörde mit der gesetzlichen Aufgabe einer möglichst flächendeckenden Gewinnung von meteorologischen Daten beauftragt ist.
Das Datengewinnungsnetzwerk des DWD zählt dabei zu den größten weltweit und alle Daten unterliegen einer mehrstufigen Kontrolle, was eine optimale Qualitätssicherung ermöglicht. Neben diesen allgemeinen Klimadaten erhebt der DWD auch einige spezielle Klimadaten. Zu diesen zählt die Erhebung der sogenannten phänologischen Daten. Systematische phänologische Beobachtungen aus den Jahren vor 1951 sind – soweit nicht in den Kriegsjahren verlorengegangen – derzeit nur in Papierform archiviert und liegen somit noch nicht aufbereitet vor. Dennoch gibt es durchgehende phänologische Datenreihen einzelner Standorte, wobei die bedeutendste Langzeitreihe die des Standorts Geisenheim (Hessen) ist, die lückenlos seit 1896 vorliegt. Forschungsarbeiten aus dem Bereich der historischen Klimatologie nutzen darüber hinaus Quellen, die noch wesentlich weiter zurückgehen. Hier kann beispielsweise die Dendrochronologie (Lehre der Baumringe) entscheidende Informationen über frühere Klimaveränderungen und Extremereignisse wie Fluten oder Dürren liefern.14 Jahrelange Forschungsarbeiten in der historischen Klimatologie haben zum Aufbau umfangreicher Klimadatensammlungen geführt, die inzwischen durch die Universität Freiburg in Form der datenbankgestützten Infrastruktur „Tambora“ (the climate and environmental history collaborative research database) zusammengeführt werden.15Die Daten zu den Wasserständen an großen deutschen Flüssen entstammen der Pegeldatenbank der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV), die in enger Zusammenarbeit mit dem „Forschungsinstitut Wasser und Umwelt“ der Universität Siegen erhoben und ausgewertet werden.16 Sie wurden durch die pegelbetreibenden Wasser- und Schifffahrtsämter geprüft und veröffentlicht. Ein weiteres bedeutendes Wasserstandsdatenprojekt ist die Plattform „Undine“ der Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG), die Datengrundlagen zur Einordnung und Bewertung hydrologischer Extreme anbietet.17 Während regelmäßige Wasserstandsbeobachtungen an den großen deutschen Flüssen bereits seit dem 18. Jahrhundert – hier jedoch primär im Hochwasserfall und durch einfache Lattenpegel – stattfanden, setzten am Pegel Dresden ab 1806 erstmals kontinuierliche Messungen ein, sodass hier die am längsten durchgehenden Wasserstandsreihen vorliegen. Weitere Erhebungen und Aufbereitungen von umweltstatistischen Daten, allerdings erst für die jüngere Zeit, finden sich auch auf den Seiten des Umweltbundesamtes.
Zum Weiterlesen empfohlen
- Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007.
- David Blackbourne: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007.
- Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, 2. Aufl., Darmstadt 2008.
- Uwe Lübken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-u-Kult 14.7.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-07-001.pdf.
- Franz Mauelshagen: Klimageschichte der Neuzeit 1500 –1900, Darmstadt 2010.
- Christian Pfister: Energiepreis und Umweltbelastung. Zum Stand der Diskussion über das „1950er Syndrom“, in: Wolfram Siemann (Hrsg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München 2003, S. 61– 86.
- Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000.
- Verena Winiwarter / Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln / Wien 2007.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.
Anmerkungen
- Uwe Lübken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umwelt- geschichte, in: H-Soz-u-Kult, 14.7.2010, http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/forum/2010-07-001.pdf, S. 21 (17.1.2014).
- Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, S. 1.
- Vgl. dazu auch Christian Pfister: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496 –1995), Bern 1999 sowie die laufenden Forschungen des seit 2006 bestehenden Past Global Changes-Projektes (PAGES), die über ein weltweites Netzwerk von Klimaforschern die regionalen Klimaveränderungen der vergangenen 2 000 Jahre zu rekonstruieren versuchen. „A Regional View of Global Climate Change”, in: Global Change, 81, October 2013, S. 18 – 23.
- Vgl. Frank Uekötter: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 81), München 2007 sowie dazu die Rezension von Jürgen Büschenfeld in: H-Soz-u-Kult, 1.4.2008, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-002 (17.1. 2014).
- Daneben sind noch die Klimastationen in Potsdam, die 1893 in Betrieb ging, sowie auf der Zugspitze mit Beobachtungsbeginn im Jahr 1900 zu nennen. Vgl. dazu www.dwd.de/bvbw/appmanager/bvbw/ dwdwwwDesktop?_nfpb=true&_pageLabel=_dwdwww_klima_umwelt_ ueberwachung_deutschland&T15803238371146814753698gsb Document Path=Navigation%2FOeffentlichkeit%2FKlima__Umwelt%2FKlimaueber wachung%2FDeutschland%2Flangereihen__trends%2Fhome__rcs_ _ stationen__node.html%3F__nnn%3Dtrue sowie auch Zahlen und Fakten zum Klimawandel in Deutschland, Klima-Pressekonferenz des Deutschen Wetterdienstes am 7.5.2013 in Berlin, 35 Seiten, als PDF unter: www.dwd.de/bvbw/generator/DWDWWW/Content/Presse/ Pressekonferenzen/2013/PK__07__05__13/ZundF__zur__PK,templateId= raw,property=publicationFile.pdf/ZundF_zur_PK.pdf (17.1.2014).
- Im Vergleich zu der globalen Jahresmitteltemperatur stieg damit in Deutschland die Temperatur seit 1881 etwas stärker an.
- Vgl. dazu die Historische Phänologische Datenbank (HPDB) des Deutschen Wetterdienstes sowie zu langen Zeitreihen für Baden-Württemberg die 120-seitige Dokumentation der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg vom Oktober 2011, S. 90ff., www.fachdokumente.lubw.baden-wuerttemberg.de/servlet/is/101480/U96U51-N10.pdf?command=downloadContent&filename=U96-U51-N10.pdf (17.1. 2014).
- Uwe Rammert/ Maike Cassens: Pflanzenphänologie zeigt den Verlauf des Klimawandels in Schleswig-Holstein, S. 19, www.umweltdaten. landsh.de/nuis/upool/gesamt/jahrbe07/Pflanzenphaenologie.pdf (17.1. 2014).
- Vgl. dazu auch Knut Kaiser u. a. (Hrsg.): Historische Perspektiven auf Wasserhaushalt und Wassernutzung in Mitteleuropa, Münster 2012.
- Vgl. dazu näher David Blackbourne: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007, S. 104ff. und auch S. 260f.
- Vgl. dazu Jürgen Jensen/Christoph Mudersbach: Zeitliche Änderungen in den Wasserstandszeitreihen an den Deutschen Küsten, in: Berichte zur Deutschen Landeskunde, 81 (2007), S. 1 – 15, www.bau.uni-siegen.de/ fwu/wb/forschung/publikationen/kliku_wasserst%C3%A4nde.pdf (17.1. 2014).
- Vgl. dazu die Datenerhebungen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe sowie hier vor allem Günter Leydecker: Erdbebenkatalog für Deutschland mit Randgebieten für die Jahre 800 bis 2008, Hannover 2011.
- Vgl. dazu den Indikatorenbericht 2010 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, hrsg. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), Berlin 2011, www.bfn.de/fileadmin/ MDB/documents/themen/monitoring/Indikatorenbericht-2010_NBS_ Web.pdf sowie Statistisches Bundesamt, Test des OECD-Indikatorensets Green Growth in Deutschland, Berlin 2012, www.destatis.de/DE/ Publikationen/Thematisch/Umweltoekonomische Gesamtrechnungen/ Umweltindikatoren/IndikatorensetsOECD5850015129004.pdf;jsessionid= FC7A495C3661FF00D 96BE92BCDBDD3B8.cae1? blob=publicationFile (17.1. 2014).
- Hierbei ist vor allem der Hohenheimer Jahresringkalender zu nennen, der ein einzigartiges Klimaarchiv mit durchgehenden Informationen für die vergangenen 12 500 Jahre liefern kann: https://botanik.unihohenheim.de/archaeo-palaeo_dendrochronologie (17.1. 2014).
- Für einen Bericht zu Tambora siehe Franck Borel/ Heike Steller: Tambora – die Entstehung einer virtuellen Forschungsumgebung, in: B.I.T.online, 15 (2012), 5, S. 423 – 430, www.tambora.org. Zur Nutzung der Daten für die Historische Klimatologie siehe u. a. Rüdiger Glaser/Dirk Riemann: A Thousand-Year Record of Temperature Variations for Germany and Central Europe Based on Documentary Data, in: Journal of Quaternary Science, 24 (2009), S. 437– 449.
- Siehe die vom WSV betriebene Datenbank PEGEL-ONLINE, www.pegelonline.wsv.de/gast/start (17.1. 2014).
- 17 Vgl. Datengrundlagen zur Einordnung und Bewertung hydrologischer Extreme: http://undine.bafg.de.