09 Kriminalität

Dietrich Oberwittler

Von der Armuts- zur Wohlstandskriminalität, von Todes- und Gefängnisstrafen zu Geld- und Bewährungsstrafen – Kriminalität und Strafverfolgung unterliegen ebenso dem sozialen Wandel wie andere gesellschaftliche Phänomene. Während die Jugend scheinbar immer krimineller wurde, ging die tödliche Gewalt in Deutschland langfristig deutlich zurück. Historische Kriminalstatistiken können vieles über die Entwicklung sozialer Probleme und die gesellschaftlichen Reaktionen verraten.

Keine Gesellschaft ist frei von sozialen Abweichungen und Regelverstößen, deren schwerwiegendste als Kriminalität definiert und verfolgt werden. Mit der Entstehung des modernen Verwaltungs- und Wohlfahrtsstaates in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die Justizbehörden einiger deutscher Länder, nach französischem und englischem Vorbild systematische Kriminalstatistiken zu führen und zu veröffentlichen.1 Für die Moralstatistiker des 19. Jahrhunderts waren diese Kriminalstatistiken wichtige Datenquellen, um „Urtheile über den sittlichen Zustand des Volkes“2 zu fällen. Pioniere der Sozialstatistik wie der Belgier Adolphe Quetelet verwendeten Kriminalstatistiken, um eine Wissenschaft der „sozialen Physik“ zu etablieren und machten die Kriminalstatistik zu einem Übungsfeld der modernen Sozialwissenschaften.
Das Besondere an der Kriminalstatistik ist jedoch, dass ihr Gegenstand naturgemäß im Verborgenen liegt und nur dann in das sogenannte „Hellfeld“ gelangt, wenn strafbare Handlungen entdeckt, angezeigt und von den Organen der staatlichen Strafrechtspflege registriert und sanktioniert werden. Während man dieses Problem im 19. Jahrhundert durch die Annahme „konstanter Verhältnisse“ zwischen der Gesamtsumme strafbarer Handlungen und der amtlich registrierten Kriminalität zu entschärfen versuchte, hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Erkenntnis durchgesetzt, dass Kriminalstatistiken zunächst Arbeitsnachweise der staatlichen Strafverfolgungsorgane sind und sich nur bedingt als Indikatoren sozialer Problemlagen eignen. Kriminalstatistiken berichten also darüber, wie viele Delikte angezeigt und wie viele Personen wegen dieser Delikte mit welchen Sanktionen belegt wurden. Darüber hinaus ist Kriminalität kein naturgegebenes Phänomen, sondern abhängig von gesellschaftlich gesetzten Normen, deren Definition und Anwendung historisch wandelbar sind. Die historische Kriminalitätsforschung interessiert sich heute vorrangig für die soziale Konstruktion von Kriminalität und vernachlässigt dabei die historische Kriminalstatistik. Diese spiegelt jedoch beides wider: sozial abweichende und konfliktreiche Verhaltensformen und ebenso deren strafrechtliche Kontrolle. Mit sorgfältigen Interpretationen kann die historische Kriminalstatistik ihren Wert für die Analyse des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland beweisen.
In der jüngsten Vergangenheit zeigen die kriminalstatistischen Trends überwiegend nach unten, immer weniger Menschen verhalten sich offenbar kriminell. Woran dies liegt und in welchem Maße sich Kriminalität in den schwer kontrollierbaren Cyberspace verlagert, sind weitgehend ungeklärte Fragen.

Das System der deutschen Kriminalstatistik

Das System der staatlichen Sozialkontrolle besteht aus mehreren Stufen, auf denen die zuständigen Organe Statistiken über ihre Tätigkeit produzieren. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bildete die justizielle Statistik über von Strafgerichten verurteilte Personen das alleinige Rückgrat der Kriminalstatistik in Deutschland. Dass die Verurteilung beinahe am Ende der Strafverfolgung steht und auf den vorherigen Stufen bereits sehr viele Fälle und Tatverdächtige ausgefiltert werden, wurde von den zeitgenössischen Experten in Kauf genommen, da man die richterliche Entscheidung als verlässlichste Grundlage eines
„objektiven Tatbestandes“ schätzte.3
Im 20. Jahrhundert setzte sich zunehmend die Auffassung durch, dass die polizeiliche Kriminalstatistik, die in Deutschland seit 1953 veröffentlicht wird, die beste Annäherung an das Kriminalitätsgeschehen darstellt, weil sie am Beginn des Ausfilterungsprozesses steht. Aber auch die Polizei registriert nur die Straftaten, die von den Opfern angezeigt oder durch eigene Kontrolltätigkeiten entdeckt werden. Heute gelten daher Bevölkerungsbefragungen zum „Dunkelfeld“ der Kriminalität als sinnvollste Methode, die jedoch in Deutschland erst seit den 1980er Jahren und seitdem nur unregelmäßig angewendet wird.
Schließlich geben Strafvollzugsstatistiken Auskunft über die Anwendung der verhängten Freiheitsstrafen. Obwohl die Gefängnisstrafe die maßgebliche Sanktionsform des 19. Jahrhunderts war, verhinderten föderale Zuständigkeiten bis in die Nachkriegszeit eine einheitliche Statistik. Ebenso stellt die staatsanwaltschaftliche Stufe, die in den vergangenen Jahrzehnten durch die Ausweitung informeller Sanktionen eine starke Bedeutungszunahme erfahren hat, einen „missing link“ der Kriminalstatistik dar.
Versuche, die verschiedenen Stufen der staatlichen Sozialkontrolle durch eine Verfolgung der einzelnen Fälle von der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis zum Gericht in einer Verlaufsstatistik zusammenzubinden, sind bislang erfolglos geblieben.4

Die Entwicklung der Kriminalität nach Geschlecht und Alter

Lange Zeitreihen der Kriminalitätsentwicklung seit 1836 zeigen einen recht stabilen Verlauf mit eher mäßigen Schwankungen, wenn man die Rate aller Verurteilten pro 100 000 Personen strafmündiger Bevölkerung zugrunde legt. Bis 1878 gibt die Zeitreihe die Verurteiltenrate für Preußen, ab 1882 für das Deutsche Reich und ab 1955 für die Bundesrepublik Deutschland ohne die DDR wieder. Zwischen 1834 und 1878 verdoppelte sich die Verurteiltenrate ungefähr, zwischen 1882 und 1933 stieg sie nur noch um 25 Prozent an, lediglich nach dem Ersten Weltkrieg und während der Hyperinflation der Weimarer Republik kam es zu kurzen, aber heftigen Anstiegen. Ab den 1950er Jahren wurde der wachsenden Bedeutung des Autoverkehrs insofern Rechnung getragen, als Straftaten im Straßenverkehr, vor allem Unfälle mit Personenschäden und Tötungen, seitdem getrennt ausgewiesen werden. Deren Rate war in den 1960er Jahren ebenso groß wie die aller übrigen Verurteilungen zusammen. Seit den 1970er Jahren ist ihre Rate dank der gestiegenen Verkehrssicherheit stark rückläufig. Die Verurteiltenrate ohne Verkehrsdelikte ist dagegen ab den 1960er Jahren bis in die 1990er Jahre um etwa 40 Prozent gestiegen und seither wieder auf das Niveau der 1970er Jahre gefallen. Sie liegt heute nicht höher als vor etwa 150 Jahren. ► Abb 1, Tab 1

Die Zeitreihe der polizeilich registrierten Straftaten – genannt Häufigkeitsziffer – ab 1953 vermittelt jedoch ein völlig anderes Bild: Die Kriminalitätsbelastung in der Bundesrepublik stieg in der gesamten Nachkriegszeit stark an und verdreifachte sich zwischen 1953 und 1993 beinahe – und das, obwohl Straftaten im Straßenverkehr in der polizeilichen Kriminalstatistik ab 1963 nicht mehr gezählt wurden. Auf dem vorläufigen Gipfel im Jahr 1993 betrug die Häufigkeitsziffer etwa 8300 pro 100 000, das heißt, auf 100 Einwohner kamen etwa acht gemeldete Straftaten in einem Jahr. Seither ist diese Rate wieder deutlich gefallen. Sie lag 2018 so niedrig wie zuletzt 1981, vor fast 40 Jahren. Die „Flüchtlingskrise“ von 2015 hat einen kurzzeitigen Ausschlag in der polizeilichen Kriminalstatistik hinterlassen, wobei ein Teil auf Verstöße gegen ausländerrechtliche Bestimmungen zurückging.
Der säkulare Anstieg der polizeilichen Häufigkeitsziffer in der Nachkriegszeit hat Kriminologen zu neuen Erklärungsansätzen provoziert, die die Zunahme von Tatgelegenheiten in der modernen Wohlstandsgesellschaft in den Mittelpunkt rücken. Aber auch ein verändertes Anzeigeverhalten und eine konsequentere Registrierung dieser Anzeigen durch die Polizei werden als Gründe dieses Anstiegs angenommen. Die Schere zwischen der stark steigenden Häufigkeitsziffer der Polizei und relativ stabilen Verurteiltenraten lässt auf einen Wandel im Umgang mit Straftätern schließen, der mangels verfügbarer staatsanwaltschaftlicher Statistiken vor 1980 nicht direkt darstellbar ist. Eine Liberalisierung des Strafrechts führte ab den 1970er Jahren dazu, dass der Anteil der von der Staatsanwaltschaft gegen Auflagen eingestellten Verfahren von einem sehr kleinen, aber unbekannten Anteil auf 63 Prozent (im Jugendstrafrecht sogar 76 Prozent) im Jahr 2015 angestiegen ist.5 Diese kriminalpolitisch gewünschte Zurückhaltung hatte auch zur Folge, dass die Fallzahlen in den Strafgerichten trotz ständig wachsender Kriminalitätsziffern konstant blieben und in der jüngsten Vergangenheit sogar gefallen sind.

Frauen stellten stets nur eine kleine Minderheit der Verurteilten und polizeilich Verdächtigen. Die Rate der weiblichen Verurteilten betrug in den 1880er Jahren ebenso wie heute knapp ein Viertel der Rate der männlichen Verurteilten, und über längere Perioden, insbesondere in den 1950er Jahren, sank sie sogar auf ein Zehntel. Es gibt keine Hinweise für eine Angleichung des kriminellen Verhaltens von Frauen im Zuge sich wandelnder Geschlechterrollen. ► Abb 2

Anders dagegen verlief die historische Entwicklung bei den Jugendlichen. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts galt dieser Altersgruppe die besondere Besorgnis von Staat und Öffentlichkeit, was in die Etablierung eines besonderen Jugendstrafrechts mündete.6 Die Verurteiltenrate der Jugendlichen stieg jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich an; ihr Rückgang nach 1982 geht ausschließlich auf das Konto der Ausweitung vorgerichtlicher Sanktionen, denn die Kurve der polizeilich registrierten jugendlichen Tatverdächtigen weist über die gesamte Nachkriegszeit bis zur Jahrtausendwende steil nach oben und hat sich innerhalb von 50 Jahren sogar vervierfacht. Das Verhältnis der Tatverdächtigenraten von Erwachsenen und Jugendlichen hat sich dadurch verkehrt, Letztere weisen heute eine erheblich höhere Rate auf. Seither sinkt die polizeilich registrierte Jugendkriminalität wieder deutlich.
Seit Beginn der Kriminalstatistik im 19. Jahrhundert wird darüber diskutiert, welchen Anteil an dem überproportionalen Anstieg der Jugendkriminalität ein Wandel von privaten zu formellen Reaktionsformen auf abweichendes Verhalten hat.7 Wiederholte Dunkelfeldbefragungen können belegen, dass heute tatsächlich ein höherer Anteil jugendlicher Delinquenten bei der Polizei angezeigt wird als noch in den 1970er Jahren.8 Welchen Anteil dieser Trend an dem langfristigen Anstieg der registrierten Jugendkriminalität hat, lässt sich jedoch nicht bestimmen, ebenso wie Kriminologen Schwierigkeiten haben, den starken Rückgang der Jugendkriminalität seit der Jahrtausendwende zu erklären.

Eigentumskriminalität

Das Massendelikt schlechthin war über die gesamte betrachtete Zeit bis heute der Diebstahl, dessen Zeitreihe hier zusammen mit Unterschlagung dargestellt wird. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten Verurteilungen wegen Diebstahls und Unterschlagung etwa zwei Drittel aller Strafurteile aus, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert nahm ihr Anteil an den gerichtlichen Fällen immer weiter ab, und zwar nicht nur, weil andere Delikte an Bedeutung zunahmen, sondern auch, weil die Verurteiltenrate bei Diebstahl selbst – wieder mit Ausnahme der Krisenjahre nach dem Ersten Weltkrieg – langfristig rückläufig war. ► Tab 2

Um ein Vielfaches häufiger war im 19. Jahrhundert der Holzdiebstahl, der Karl Marx als Beispiel für seine Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Besitzordnung und der Kriminalisierung der Unterschichten diente.9 Holzdiebstahl wurde nicht zu den Vergehen und Verbrechen gezählt, sondern lediglich als Übertretung mit Geldstrafen geahndet. Im Vormärz und in den Krisenjahren der 1840er bis 1860er Jahre stieg die Rate der registrierten Holzdiebstähle stark an.
Bereits die Kriminalstatistiker des 19. Jahrhunderts wie Georg von Mayr vermuteten einen engen und armutsbedingten Zusammenhang zwischen den kurzfristigen Schwankungen der Diebstahlsrate und der Preisentwicklung bei Grundnahrungsmitteln.10 Mit modernen statistischen Methoden wurde der kausale Effekt der Schwankungen der Getreidepreise auf die Diebstahlsrate sowohl für die Mitte als auch für das Ende des
19. Jahrhunderts bestätigt.11 Die übereinandergelegten Kurven der jährlichen prozentualen Veränderungen der Getreidepreise und Diebstahlsraten in Abbildung 3 lassen bereits erahnen, dass dieser Zusammenhang im 19. Jahrhundert recht eng war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand der Zusammenhang nicht mehr, Preise und Diebstahlsraten fluktuieren unabhängig voneinander. Eindrucksvoll ist der Vergleich auch in Hinblick auf die Stärke der jährlichen Schwankungen, die während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig 20 bis 30 Prozent oder sogar mehr betrugen, während sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie 10 Prozent überschritten. Die wirtschaftliche Entwicklung hat also nicht nur zu einer enormen Anhebung des Wohlstandsniveaus geführt, sondern sie hat auch kurzfristige Unsicherheiten beseitigt, die im 19. Jahrhundert in Verbindung mit Armut eine wichtige Ursache für Eigentumskriminalität waren. ► Abb 3

Dass die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert die absolute Armut (mit Ausnahme von Kriegsund Nachkriegsphasen) vollständig beseitigte, führte jedoch keineswegs zu einem Rückgang der Eigentumskriminalität, sondern feuerte sie im Gegenteil sogar noch an. Denn erst nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend mit dem deutschen Wirtschaftswunder, stieg die Verurteiltenrate ebenso wie die polizeiliche Häufigkeitsziffer für Diebstahl und Unterschlagung deutlich an; Letztere vervierfachte sich zwischen 1953 und 1993. Kriminologen erklären diese überraschende Entwicklung damit, dass materieller Überfluss mit der wachsenden Zahl leicht zu stehlender Wertgegenstände in Geschäften und Haushalten zu mehr Tatgelegenheiten führt, die dann auch genutzt werden. Allerdings sind Diebstahlsdelikte einschließlich Wohnungseinbrüchen (ebenso wie Autodiebstähle und Banküberfälle) seit 1993 rückläufig. In den vergangenen zwei Jahrzehnten zeichnet sich bei der Eigentumskriminalität ein Trend der Verlagerung von Diebstahlszu Betrugsdelikten ab. Im Jahr 2005 überstieg die Verurteiltenrate für Betrug erstmals die Verurteiltenrate für Diebstahl. Diese Verschiebungen von traditionellen Formen der Bereicherungskriminalität, die quasi noch Handarbeit erforderten, zu eher an moderne Formen des Geschäftslebens angepasster Betrugskriminalität reflektiert den sozialen Wandel von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft mit veränderten Gelegenheitsstrukturen einschließlich des Internets. Die Cyberkriminalität zählt heute zu den großen Herausforderungen der Strafverfolgung.

Gewaltkriminalität

Gewaltkriminalität und erst recht schwere Formen von Gewalt machen nur einen kleinen Anteil an der gesamten Kriminalität aus. Während tödliche Gewalt aufgrund geringer Definitionsspielräume, eines kleinen Dunkelfeldes und einer sehr hohen Aufklärungsrate als zuverlässiger Indikator der historischen Gewaltentwicklung gilt, hängt die Statistik nicht tödlicher Gewaltformen wie Körperverletzung und Raub sehr stark vom Anzeigeverhalten und den Reaktionen von Polizei und Strafjustiz ab; beide unterliegen historisch wandelbaren Bewertungsmustern von Gewalt.12 Im langfristigen historischen Wandel geht die Gewalt tendenziell zurück, während die gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Gewalt steigt. In der Kriminalstatistik erkennt man jedoch mehrere Phasen drastischer Gewaltanstiege, die möglicherweise Folgen sozialer Umbrüche waren, wie schneller Urbanisierung und verstärkter Migration, die aber auch als Ausdruck sinkender Toleranz gegenüber Gewalttaten und intensivierter Strafverfolgung (vielleicht auch in Reaktion auf tatsächliche Gewaltwellen) gewertet werden können.13 ► Tab 3

Diese Interpretation betrifft vor allem die Entwicklung der gefährlichen Körperverletzung, deren außergewöhnliche Zunahme zwischen 1876 und 1900 auch einer Verschärfung des Strafgesetzbuches geschuldet war. Ab 1876 musste jeder bekannt gewordene Fall als Offizialdelikt von Amts wegen verfolgt werden. Als diese Strafverfolgungspflicht 1918 wieder aufgehoben wurde, fiel die bereits seit der Jahrhundertwende im Sinken begriffene Rate auf das frühere Niveau zurück. Auch der zweite Anstieg der gefährlichen Körperverletzungen seit den 1960er Jahren wird von Kriminologen teils auf eine steigende Anzeigebereitschaft der Opfer zurückgeführt. Raubdelikte spielten in der Kriminalstatistik bis in die 1960er Jahre kaum eine Rolle, bevor die Verurteiltenrate auf das Fünffache und die polizeiliche Häufigkeitsziffer auf das Zehnfache anstiegen. Ein Teil dieses Anstiegs kann mit der zunehmenden Beschaffungskriminalität von Drogenabhängigen erklärt werden. In den 1980er und 1990er Jahren wurden zudem vermehrt Kinder und Jugendliche wegen des gegenseitigen „Abziehens“ von Kleidung und dem Raub von Mobiltelefonen strafrechtlich verfolgt. Aber auch dieses Delikt zeigt ebenso wie Diebstahl seit der Jahrtausendwende einen fallenden Trend.

In Abbildung 4 sind drei unterschiedliche Indikatoren für die Entwicklung der Tötungsdelikte dargestellt, von denen die Todesursachenstatistik für den langfristigen Trend die zuverlässigste ist. Jedoch unterschätzt diese Statistik die Zahl der Opfer von tödlicher Gewalt, unter anderem weil das System der ärztlichen Leichenschau in Deutschland unzureichend ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fluktuierte die Rate der gewaltsamen Todesfälle etwa zwischen 1 und 2,5 pro 100 000 Personen und stieg nur unmittelbar vor Beginn und nach Ende des Ersten Weltkriegs stark an. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben die Todesursachenstatistik, die Verurteiltenrate und die Häufigkeitsziffer auf unterschiedlichem Niveau eine ähnliche Kurve, die zunächst bis in die 1970er Jahre nach oben und seit den 1990er Jahren wieder deutlich nach unten zeigt. Mit dem heutigen Wert von 0,5 hat Deutschland eine der weltweit niedrigsten Raten tödlicher Gewalt. Zu diesem Rückgang hat auch der Fortschritt der Notfallmedizin beigetragen. ► Abb 4
Einen bedeutsamen Anteil an dem langfristigen Rückgang der tödlichen Gewalt hat auch die Entwicklung der Kindstötungen. Noch heute sind die ersten Tage nach der Geburt die gefährlichsten des ganzen Lebens, mit einem im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sechsfach höheren Risiko, umgebracht zu werden. Vor der Legalisierung von Abtreibungen und wegen der verbreiteten Stigmatisierung unehelicher Geburten war die Tötung von Säuglingen durch ihre Mütter im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch erheblich häufiger, mit Raten zwischen 15 und 20 und in den 1920er Jahren sogar bis 40 pro 100 000 Lebendgeborenen.

Die strafrechtliche Sanktionierung der Kriminalität

Der historische Wandel zeigt sich am deutlichsten in der Art und Weise, wie das Strafrechtssystem mit Delinquenten umgeht. Die kriminalpolitische Entwicklung reicht von der Errichtung einer bürgerlichen Strafjustiz mit rechtsstaatlichen Prinzipien und dem Primat des Gefängnisses im 19. Jahrhundert über die Verirrungen kriminalbiologischer Ansätze und der Radikalität nationalsozialistischer Strafexzesse bis zur Abrüstung des Strafenkatalogs, der Ausweitung ambulanter Sanktionen und damit aber auch der sozialen Kontrolle im Zeichen liberaler Strafrechtsreformen in der Nachkriegszeit. ► Tab 4

Dieser Wandel lässt sich in der gerichtlichen Statistik der Strafsanktionen bei verurteilten Straftätern seit 1882 ablesen. Wurden in den 1880er Jahren noch knapp 80 Prozent der Verurteilten mit einer Freiheitsstrafe sanktioniert, die auch tatsächlich verbüßt werden musste, so ist dieser Anteil bis heute in mehreren Schritten auf unter 10 Prozent gefallen. An die Stelle des Gefängnisses sind Geldstrafen, Bewährungsstrafen und andere ambulante Sanktionen getreten. Hinzuzurechnen wäre die steigende Zahl der mit diversen Auflagen verbundenen Verfahrenseinstellungen. Dass die Rate der Strafgefangenen in Deutschland diesem Trend entsprechend nicht deutlich zurückgegangen ist, liegt an der quantitativen Zunahme der Straftäter und an der überproportionalen Zunahme schwerer Straftaten durch diese Verurteilten, die entsprechend längere Freiheitsstrafen absitzen müssen. ► Abb 5

Die Todesstrafe erscheint heute als ein Relikt aus grausamer Vergangenheit. Doch die letzte Hinrichtung in Deutschland fand noch 1981 in der DDR statt. Aber bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten einige deutsche Staaten die Todesstrafe abgeschafft, und in den 1860er und 1870er Jahren wurden nur sehr wenige Todesurteile vollstreckt, nachdem die Zahl der Exekutionen nach 1848 vorübergehend stark angestiegen war. Unmittelbar nach der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten schnellte die Zahl der Hinrichtungen stark in die Höhe, und während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einem beispiellosen staatlichen Gewaltexzess, dem nach realistischen Schätzungen mehr als 16 000 Zivilpersonen – die Hinrichtungen der Militärjustiz nicht mitgerechnet – zum Opfer fielen. ► Abb 6

Datengrundlage

Den besten Überblick über Geschichte und Gegenwart der deutschen Kriminalstatistik bietet Wolfgang Heinz14, der auch das Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung (KIK) und Sanktionsforschung (KIS) aufgebaut hat.15 Grundsätzlich muss beachtet werden, dass alle Kriminalstatistiken von häufigen Änderungen der Rechtsnormen und Verwaltungsregeln betroffen sind, die sich unterschiedlich stark auf die Entwicklung der Zeitreihen auswirken können.
Die gerichtliche Verurteiltenstatistik bietet die längste historische Zeitreihe der Kriminalstatistik. Ab 1882 und letztmalig 1942 erschien die sogenannte Reichskriminalstatistik als Reihe in der Statistik des Deutschen Reiches. Im Jahresband 1927 wurden lange Zeitreihen ab 1882 veröffentlicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Reihe in der Bundesrepublik als Strafverfolgungsstatistik vom Statistischen Bundesamt weitergeführt, erst ab 2007 sind darin die neuen Bundesländer vollständig erfasst. Vor der Reichsgründung hatten bereits einzelne Länder Verurteiltenstatistiken geführt; hier wird die preußische verwendet, deren Zeitreihen für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts von Dirk Blasius16 und für die zweite Hälfte von Wilhelm Starke17 veröffentlicht wurden.
Die polizeiliche Kriminalstatistik der registrierten Straftaten und Tatverdächtigen wird seit 1953 vom Bundeskriminalamt für die Bundesrepublik und seit 1993 für das wiedervereinigte Deutschland herausgegeben, nachdem es den Jahren 1936 bis 1938 bereits erste Versuche gegeben hatte. Im Internet bietet das Bundeskriminalamt Zeitreihen ab 1987 an, der Zeitraum 1953 bis 2003 wird von Uwe Dörmann18 zusammengefasst. Ab 1963 wurden aus der polizeilichen Kriminalstatistik Straftaten im Straßenverkehr ausgeschlossen, ab 1984 wurden Tatverdächtige nur noch einmal innerhalb eines Jahres gezählt; beide Änderungen führten zu deutlichen Einschnitten in den Zeitreihen.
Eine umfassende Strafvollzugsstatistik der Gefängnisse gibt es in Deutschland erst ab 1960 (ab 1992 für Gesamtdeutschland), da der Strafvollzug im Deutschen Reich in der Verantwortung der Länder blieb und selbst dort teils, wie zum Beispiel in Preußen, auf mehrere Ministerien aufgeteilt war.
Von besonderem Interesse ist die Anwendung der Todesstrafe. Da sich die amtliche Statistik im Nationalsozialismus und danach über die Zahl der Hinrichtungen ausschwieg, ist man hier besonders auf historische Rekonstruktionen wie auf die gründliche Arbeit von Bernhard Duesing19 angewiesen.
Studien zur historischen Entwicklung der Gewaltkriminalität verwenden außerdem die Todesursachenstatistik, da sie unabhängig von der Strafverfolgung die Zahl der Opfer von absichtlicher tödlicher Gewalt zählt und nach Opfermerkmalen differenziert. Ein Teil der hier verwendeten Daten wurde aus der von Manuel Eisner20 aufgebauten Historical Homicide Database übernommen, ein anderer Teil aus der preußischen Todesursachenstatistik und ab 1960 aus der entsprechenden Reihe des Statistischen Bundesamtes entnommen, die schon ab 1980 gesamtdeutsche Zahlen enthält.
Für die DDR existieren keine ernstzunehmenden Kriminalstatistiken, da die Regierung aus ideologischen Gründen nicht an einer wahrheitsgetreuen Berichterstattung interessiert war. Die Anzahl der Todesurteile und Hinrichtungen in der DDR wurden von Falco Werkentin21 und dem Bürgerkomitee Leipzig e. V.22 rekonstruiert.
Angesichts niedriger Fallzahlen ist es in der Kriminalstatistik generell üblich, bevölkerungsbezogene Raten pro 100 000 Personen strafmündiger Bevölkerung (bei Tatverdächtigen, Verurteilten und Inhaftierten) bzw. der Wohnbevölkerung (bei den Häufigkeitsziffern der polizeilich registrierten Straftaten) zu berechnen. Das Strafmündigkeitsalter wurde 1923 von 12 auf 14 Jahre angehoben. Seit den 1980er Jahren werden in der polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik täterbezogene Raten nur noch für deutsche Staatsangehörige anhand der deutschen Wohnbevölkerung berechnet, weil eine Rate für Nichtdeutsche durch Touristen, Durchreisende und Illegale, die nicht zur Wohnbevölkerung gehören, verzerrt würde. Im Interesse der historischen Kontinuität werden hier jedoch ausschließlich einheitliche Raten aller Tatverdächtigen bzw. aller Verurteilten bezogen auf die gesamte Wohnbevölkerung in Deutschland berechnet.
Die Bevölkerungszahlen werden aus den Kriminalstatistiken und aus demografischen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes und des Deutschen Reiches bzw. Preußens entnommen. Daher weichen einige der hier dargestellten Raten für die vergangenen Jahrzehnte von der veröffentlichten Kriminalstatistik ab.

Zum Weiterlesen empfohlen

  • Dirk Blasius: Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978.
  • Richard J. Evans: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte, Berlin 2001.
  • Rebekka Habermas / Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalgeschichte, Frankfurt a. M. 2009.
  • Wolfgang Heinz: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 – 2012, Konstanz 2014, www.unikonstanz.de/rtf/kis/Sanktionierungspraxis-in-Deutschland-Stand-2012.pdf.
  • Wolfgang Heinz: Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland – Berichtsstand 2015 im Überblick, www.uni-konstanz.de/rtf/kis/ Kriminalitaet_und_Kriminalitaetskontrolle_in_Deutschland_Stand_2015.pdf.
  • Dietrich Oberwittler: Kriminalität, in: Stefan Mau / Nadine Schöneck (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 3. Aufl., Wiesbaden 2013.
  • Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a. M. 2011. Statistisches Bundesamt: Justiz auf einen Blick, Wiesbaden 2011.
  • Helmut Thome / Christoph Birkel: Sozialer Wandel und die Entwicklung der Gewaltkriminalität. Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950 bis 2000, Wiesbaden 2007.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE Namensnennung Nicht-kommerziell Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

Anmerkungen

  1. Wolfgang Heinz: Kriminalstatistik, Wiesbaden 1990; Herbert Reinke: Die „Liaison“ des Strafrechts mit der Statistik. Zu den Anfängen kriminalstatistischer Zählungen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 12 (1990), S. 169 –179.
  2. Wilhelm Starke: Verbrechen und Verbrecher in Preußen 1854 –1878. Eine kulturgeschichtliche Studie, Berlin 1884, S. 4.
  3. Heinz (Anm. 1), S. 13.
  4. Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten: Weiterentwicklung der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistik in Deutschland, RatSWD Output 7 (6), Berlin 2020, https://doi.org/10.17620/02671.46.
  5. Wolfgang Heinz: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 – 2012, Konstanz 2014, S. 61, 118.
  6. Dietrich Oberwittler: Von Strafe zu Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland, 1850 –1920, Frankfurt a. M. 2000.
  7. Johann Gottfried Hoffmann: Über die Unzulässigkeit eines Schlusses auf Sitten-Verfall aus der Vermehrung der gerichtlichen Untersuchungen gegen jugendliche Verbrecher, o. O. 1838.
  8. Dietrich Oberwittler/ Tilman Köllisch: Nicht die Jugendgewalt, sondern deren polizeiliche Registrierung hat zugenommen. Ergebnisse einer Vergleichsstudie nach 25 Jahren, in: Neue Kriminalpolitik, 16 (2014), S. 81 –120.
  9. Josef Mooser: „Furcht bewahrt das Holz“. Holzdiebstahl und sozialer Konflikt 1800 –1850 an westfälischen Beispielen, in: Heinz Reif (Hrsg.): Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984.
  10. Georg von Mayr: Statistik der gerichtlichen Polizei im Königreiche Bayern, München 1867.
  11. Christian Traxler/Carsten Burhop: Poverty and Crime in 19th Century Germany: A Reassessment (Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, No. 2010, 35), Bonn 2010.
  12. Helmut Thome/Christoph Birkel: Sozialer Wandel und die Entwicklung der Gewaltkriminalität. Deutschland, England und Schweden im Vergleich. 1950 bis 2000, Wiesbaden 2007.
  13. Ralph Jessen: Gewaltkriminalität im Ruhrgebiet zwischen bürgerlicher Panik und proletarischer Subkultur (1870 –1914), in: Dagmar Kift (Hrsg.): Kirmes-Kneipe-Kino. Arbeiterkultur zwischen Kommerz und Kontrolle (1815 –1914), Paderborn 1992.
  14. 14 Heinz (Anm. 1).
  15. www.ki.uni-konstanz.de
  16. Dirk Blasius: Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978.
  17. Starke (Anm. 2).
  18. Uwe Dörmann: Zahlen sprechen nicht für sich. Aufsätze zu Kriminalstatistik, Dunkelfeld und Sicherheitsgefühl aus drei Jahrzehnten (Polizei + Forschung, Band 28), München 2004.
  19. Bernhard Duesing: Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland unter der Berücksichtigung ihres parlamentarischen Zustandekommens, Schwenningen 1952.
  20. Manuel Eisner: Langfristige Gewaltentwicklung: Empirische Befunde und theoretische Erklärungsansätze, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Opladen 2002.
  21. Falco Werkentin: Die politische Instrumentalisierung der Todesstrafe in der SBZ/DDR – Darstellung der justitiellen Praxis in der SBZ/DDR und Bilanz der Rehabilitierung von Verurteilten und deren Angehörigen in der Zeit nach 1990, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II /1, Baden-Baden 1999.
  22. Bürgerkomitee Leipzig e. V.: Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker, persönliche Mitteilung am 19.9.2013.