06 Sozialpolitik

Marcel Boldorf

Staatliche Sozialpolitik ist der wichtigste Mechanismus zur Umverteilung gesellschaftlichen Wohlstandes. In ihren Anfängen war sie in den meisten Bereichen als finanziell sich selbst tragendes System konzipiert, wurde aber im 20. Jahrhundert zunehmend durch erhebliche Staatszuschüsse geprägt. Auch weiteten sich die sozialpolitischen Felder immer mehr aus, und die Zahl der Leistungsberechtigten nahm zu.

Die erstmalige Verbindung der Wörter „politisch“ und „sozial“ lässt sich ab Mitte der 1840er Jahre inmitten der letzten vorindustriellen Pauperismuskrise (lat. pauper „arm“) feststellen. Fortan fand der Begriff Verwendung in einem Atemzug mit „Sozialreform“ und „Sozialer Frage“.1 Der Nationalökonom Adolph Wagner hielt 1871 eine in der Öffentlichkeit stark beachtete Rede zur Notwendigkeit politisch-sozialer Reformen, der ein Jahr später die Gründung des „Vereins für Socialpolitik“ folgte. Diese Standesvertretung der deutschen Ökonomie setzte die Idee der Sozialreform auf ihre Agenda. Die Bezeichnung „Sozialpolitik“ verfestigte sich mit den Bismarckschen Sozialreformen der 1880er Jahre. Sie stellten sich als eine Mischung autoritärer und autonomer Strukturen dar: Einerseits handelte es sich um eine öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung, die einen „fürsorglichen Zwang“ ausübte, andererseits bildete die Selbstverwaltung wie in den früheren Sozialsystemen der Zünfte und Gilden die Grundlage der Organisation. Bismarcks politischer Kurs war zweigeteilt, denn er ließ mit dem Sozialistengesetz (1878) die Arbeiterorganisationen verfolgen, sorgte aber für eine patriarchalisch motivierte Einbindung der Arbeiter in den Staat. 1880 verteidigte er dieses von liberaler Seite als „Staatssozialismus“ bezeichnete System als vernünftig und missachtete die von seinen Gegnern vorgebrachten Bedenken gegen einen zu großen Staatseinfluss. Zugleich pochte er nicht auf die finanzielle Selbstbeteiligung der Versicherten, denn er wollte aus den Arbeitern „kleine Staatsrentner“ machen und hätte daher auf ihre Beiträge am liebsten verzichtet.2
Die Sozialgesetzgebung trug den existenziellen Lebensrisiken der Arbeitnehmer und ihrer Familien Rechnung, wie sie durch das Vordringen der lohnabhängigen Erwerbsarbeit im 19. Jahrhundert entstanden waren. Als solche Risiken unterscheidet man klassischerweise vier Bereiche: den Krankheitsfall, die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit durch Unfall, Invalidität und Alter sowie die Arbeitslosigkeit. Diese vier Kategorien entsprachen den klassischen Pfeilern der deutschen Sozialpolitik, die Reichskanzler Bismarck bei der Verlesung der kaiserlichen Sozialbotschaft am 17. November 1881 ansprach. Das nachfolgende staatliche Versicherungssystem fing drei der genannten Lebensrisiken für die Arbeiterschaft kollektiv auf: 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung sowie 1889 die Invaliditäts- und Altersversicherung. Erst 1927 kamen die Arbeitslosenversicherung und 1994 die Pflegeversicherung hinzu.
Die vier genannten Zweige der Sozialversicherung umfassten zwar den Kern, aber nur einen Teil des Systems der sozialen Sicherung, zu dem noch Politikfelder wie die Arbeitnehmerschutzpolitik, die betriebliche Mitbestimmung, die Familienpolitik, die Jugend- oder die Altenhilfe gerechnet werden könnten. Die Sozialversicherungsstatistik wird hier nur um die Fürsorge ergänzt, die noch im 20. Jahrhundert alle von der Sozialversicherung nicht erfassten Fälle aufnahm. Auch als Sozialhilfe oder Sozialfürsorge bezeichnet, trat sie die Nachfolge der kommunalen Armenfürsorge als grundlegendster und ältester Form der öffentlichen Existenzsicherung an.

Krankenversicherung

Das Gesetz über die Krankenversicherung der gewerblichen Arbeiter vom 15. Juni 1883 stellte einen reichsgesetzlichen Versicherungszwang her und gewährte den Versicherten freie ärztliche Behandlung und Arznei. Organisatorisch knüpfte es an die traditionellen gewerblichen Unterstützungskassen an, vor allem der Fabriken und Innungen. Die Einführung allgemeiner Ortskrankenkassen war zwar schon im Gesetz von 1883 vorgesehen, setzte sich aber erst allmählich durch. Finanziert wurde die Versicherung zu zwei Dritteln vom Arbeitnehmer, zu einem Drittel vom Arbeitgeber. Bis zur Jahrhundertwende waren 10 Millionen Pflichtversicherte erfasst, die überwiegend männlichen Geschlechts waren.
Die Versicherten erhielten vom dritten Tag an Krankengeld für maximal 13 Wochen sowie Arzt- und Arzneikosten nach dem Besuch eines vertraglich gebundenen Bezirksarztes.3
1913 verteilten sich die Ausgaben der staatlichen Krankenversicherung zu 41 Prozent auf Krankengeld, zu 24 Prozent auf Arztkosten, zu jeweils 15 Prozent auf Arznei- und Krankenanstaltskosten sowie zu 4 Prozent auf Ausgaben für Schwangere, Wöchnerinnen und Sterbegeld.4 Trotz gewisser Schwächen leistete die Krankenversicherung einen wesentlichen Beitrag zur Integration der Arbeiter ins Kaiserreich.
Bis 1925 erfasste die Mitgliederstatistik nur Orts-, Landes-, Betriebs- und Innungskrankenkassen, ab 1926 Knappschaftskassen, ab 1928 die Seekrankenkasse und ab 1937 auch die Ersatzkassen. In der Mitgliederstatistik erscheint allein die letztgenannte Änderung der NS-Zeit als nennenswerter statistischer Einschnitt. Jedoch dürfte es sich bei der Zunahme des Versichertenstandes auch um eine Kompensation des Rückgangs während der Weltwirtschaftskrise, vielleicht auch um den statistischen Niederschlag der vom Regime geförderten Pflichtversicherung einiger selbstständiger Berufe handeln. Gebietsveränderungen trugen indes nicht zur Erklärung bei, weil in der Reichsstatistik lediglich das Saarland ab 1935 hinzukam.5 ► Tab 1

Nach disparaten Entwicklungen in der Besatzungszeit ließ die erste Bundesregierung die gegliederte Krankenversicherung bestehen bzw. führte sie wieder ein. Die durch das NS-Regime beseitigte Ordnung, zum Beispiel die paritätische Selbstverwaltung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wurde wieder hergestellt. Zu den ersten gesetzgeberischen Maßnahmen gehörte die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Flüchtlinge und Vertriebene, auf Kriegsheimkehrer und DDR­Flüchtlinge. Die zahlenmäßig größte Veränderung in der Mitgliederstatistik brachte 1957 die Rentenreform, die alle Rentner in die gesetzliche Krankenversicherung aufnahm. Die sozialliberale Regierung erweiterte die Leistungen hinsichtlich der Prävention und der Pflege und bezog 1972 die Landwirte und 1975 die Studenten in den Kreis der gesetzlich Versicherten ein. Trotz des sich ändernden sozialpolitischen Denkens stiegen die Staatsausgaben in der Krankenversicherung weiterhin überdurchschnittlich.6 ► Tab 1, Abb 1

Unfallversicherung

In den 1880er Jahren drehte sich die politische Debatte um die Frage, ob die Unfallversicherung als staatsunabhängige Versicherung durch Beiträge oder eine vom Reich durch Zuschüsse getragene Einrichtung organisiert werden sollte.7 Bismarck setzte auf eine Zwangsversicherung, bei der die Arbeitnehmer keine Beiträge zu zahlen brauchten. Schließlich wurde sie ohne Staatszuschuss und allein durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert. Träger waren die öffentlich-rechtlichen Berufsgenossenschaften, die die Unternehmer der versicherten Betriebe zusammenfassten. Pflichtversichert waren alle Arbeiter und Angestellten mit einem Jahreseinkommen bis 2 000 Mark. Noch im Reichshaftpflichtgesetz von 1871 waren die Arbeiter nur bei Schadensfällen zu entschädigen, die der Unternehmer zu verantworten hatte. Bei Unfällen durch höhere Gewalt oder Unachtsamkeit der Kollegen ging das Unfallopfer leer aus. In der Unfallversicherung traten eine soziale Gewährung und eine Vergesellschaftung des Risikos an die Stelle dieser Regelung.
Ursprünglich nur für das Gewerbe konzipiert, wurde andere Berufsgruppen sukzessive in den Versichertenkreis einbezogen, zum Beispiel 1884/85 die Post, die Telegrafen-, Eisenbahn-, Marine- und Heeresverwaltung, 1886 die Land- und Forstwirtschaft sowie 1887 die Bauwirtschaft und die Seeschifffahrt. Durch den Beitritt der Berufsgenossenschaften weiterer Branchen erhöhte sich der Versichertenstand ebenso wie durch personelle Erweiterungen, etwa um Soldaten und Strafgefangene. Bis zur Jahrhundertwende gehörten der Unfallversicherung knapp 20 Millionen und bis zum Ersten Weltkrieg rund 30 Millionen Versicherte an. 1913 verteilten sich diese auf 68 gewerbliche und 49 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften sowie auf 561 Gemeinden bzw. Gemeindeverbände.8 ► Tab 2
Die Erweiterungen der Weimarer Republik betrafen den Personenkreis (Aufnahme von kaufmännischen Angestellten und Verwaltungsangestellten sowie von Einzelberufen), die versicherten Risiken (Erfassung von Berufskrankheiten und Unfällen auf dem Weg zum Arbeitsplatz) und die Leistungen (Heilfürsorge zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit). Die statistisch relevanten Veränderungen in der NS-Zeit bezogen sich lediglich auf die Erweiterung der Liste der Berufskrankheiten und die Einbeziehung von Unfällen in Berufs- und Fachschulen. Insgesamt reichte die Veränderung der organisatorischen Struktur weniger weit als bei der Krankenversicherung.9 In der Bundesrepublik nahm die Unfallversicherung die traditionellen Strukturen auf und wurde im Unfallversicherungsgesetz von 1952 nur geringfügig verändert. Zu den Modifikationen unter der sozialliberalen Koalition gehörte 1971 die Aufnahme von Schul- und Tagesstättenkindern in den Versicherungsschutz.10 Den Brüchen der Jahre 1956 und 1986 lagen jeweils Änderungen der statistischen Erhebungskriterien zugrunde. ► Tab 2

Rente

Das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung galt bei seiner Einführung am 22. Juni 1889 für alle Arbeiter ab dem 16. Lebensjahr und Angestellte, deren Jahreseinkommen unter 2 000 Mark lag. Bis zur Jahrhundertwende wurden die Renten allerdings primär im Falle der Arbeitsinvalidität und als „Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt“ erst ab Vollendung des 70. Lebensjahres gewährt. Der Beitragssatz für die Rente lag bei lediglich 1,7 Prozent des Arbeitseinkommens und wurde je zur Hälfte von den Arbeitern und den Arbeitgebern aufgebracht. Entsprechend niedrig lagen die Leistungen, die im Sterbefall die Hinterbliebenen, das heißt Witwen und Waisen, nicht versorgten.
Die Invaliditäts- und Altersrente bestand aus zwei Komponenten: zum einen dem einheitlichen Reichszuschuss von 50 Mark im Jahr, der nach Bismarcks Absicht das paternalistische Motiv der Rente deutlich machte; zum anderen der eigentlichen Versicherungsrente, die sich bei Invalidität aus einem einheitlichen Grundbetrag von 60 Mark und einem Steigerungsbetrag zusammensetzte und von Versicherungsdauer und Beitragshöhe abhing. Die Altersrente bestand nur aus dem letzteren, variablen Betrag. Hier schien ein Grundbetrag entbehrlich, weil die Altersrentner aufgrund der längeren Versicherungsdauer eine höhere Rente erwarten konnten. Lange Zeit wurde die Altersrente als Invalidenrente bei nachlassender Arbeitsfähigkeit angesehen. Aus politischen Gründen wurden die Anspruchsvoraussetzungen jedoch erweitert und die Leistungen aus den laufenden Beiträgen finanziert, das heißt, es gab eine Umlagefinanzierung, zu der ein Staatszuschuss kam. Gleichzeitig wurden Mittel angespart, um die Versicherung langfristig auf Kapitaldeckung umzustellen. Angesichts der bescheidenen Leistungen konnte die Rentenversicherung bis 1913 ein beträchtliches Kapital ansammeln, das aber durch die Kriegsinflation vernichtet wurde.11 ► Tab 3, Tab4

Erst die Reichsversicherungsordnung vom Juli 1911 führte eine Hinterbliebenenversorgung für Witwen und Waisen ein, die für erstere nur den Fall der Invalidität abdeckte. Die im gleichen Jahr entstandene Angestelltenversicherung kam bis 1945 ohne Reichszuschüsse aus. Für den Rentenbestand war relevant, dass im Ersten Weltkrieg nicht nur die Zahl der Leistungsberechtigten stieg, sondern auch die Leistungsansprüche erweitert wurden. Generell wurde das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre gesenkt. Trotz Staatszuschüssen sanken die Renten durch die Inflation des Jahres 1923 zur Bedeutungslosigkeit herab. Der Neubeginn beruhte wieder auf der Umlagefinanzierung. Bis ins Dritte Reich blieb die finanzielle Sanierung prioritär. Erst mit Erreichen der Vollbeschäftigung 1937 erweiterten sich die Spielräume für einen Ausbau, der gemäß den rassistischen Prinzipien des nationalsozialistischen Regimes erfolgte.12
Nach 1945 blieb die Rentenversicherung der Angestellten organisatorisch von den Landesversicherungsanstalten der Arbeiter getrennt. Mit der Währungsreform von 1948 wurden die Renten im Verhältnis 1:1 von Reichsmark auf D-Mark umgestellt, während die übrige Währungsumstellung im Verhältnis 1:10 erfolgte. Das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom 17. Juni 1949 führte eine Mindestrente in der Alters- und Invaliditätsversicherung ein, deren Niveau über den Richt­sätzen der Fürsorge lag.13 Eine partielle Angleichung der Leistungen für Arbeiter und Angestellte brachte die Zuerkennung eines Rentenanspruchs für Witwen in der Arbeiterversicherung und die Senkung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (von zwei Dritteln auf die Hälfte) als Voraussetzung für die Invaliditätsrente. Die Erweiterung des Kreises der Leistungsempfänger konzentrierte sich mit dem Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (1953) auf die Flüchtlinge und Vertriebenen.
Als Markstein der sozialpolitischen Entwicklung schloss die Rentenreform die zweite Legislaturperiode Konrad Adenauers ab. Im Januar 1957 nahm eine Bundestagsmehrheit unter Einschluss der Stimmen der Sozialdemokraten, aber gegen diejenigen der FDP, das Neuregelungsgesetz an. Die Renten sollten nicht mehr als Zuschuss für ältere Bürger gewährt werden, sondern eine Lohnersatzfunktion übernehmen, damit die Rentner an den Produktivitätsfortschritten der Wirtschaft partizipierten. Das durchschnittliche Rentenniveau erhöhte sich um 60 Prozent, und seit 1959 passte die Dynamisierung die Renten jährlich an die Reallohnentwicklung an. Dem neuen System lag die Vorstellung eines Generationsvertrages zugrunde, das heißt, die arbeitende Bevölkerung kam für die Renten der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Generation auf. Im Umlageverfahren wurden die eingenommenen Beiträge direkt für die Finanzierung der Renten ausgegeben und durch steigende Bundeszuschüsse ergänzt.
Das Leistungsspektrum der gesetzlichen Rentenversicherung wurde in der Bundesrepublik 1957 auf die Landwirte und 1960 auf die selbstständigen Handwerker ausgedehnt. Das Rentenreformgesetz von 1972 führte erstmalig flexible Altersgrenzen in der Rentenversicherung ein, sodass eine frühere Verrentung möglich war. Unter Bundeskanzler Willy Brandt öffnete sich die Pflichtversicherung für Selbstständige und Hausfrauen, die die Möglichkeit erhielten, durch freiwillige Beiträge Rentenansprüche zu erwerben.14
Während der 1980er Jahre sank das tatsächliche Renteneintrittsalter infolge betrieblicher Regelungen und tariflicher Vereinbarungen. 1989 ging fast jeder zweite männliche Rentner vorzeitig in Ruhestand. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurden rund 4 Millionen bisherige DDR-Rentnerinnen und Rentner in das bundesdeutsche System integriert. Das Rentenüberleitungsgesetz übertrug zum 1. Januar 1992 die lohnbezogene dynamisierte Rente auf das Beitrittsgebiet. Ab 2001 wurden die Altersgrenzen wieder schrittweise angehoben und damit der Rückgang der Frühverrentung eingeleitet. Im November 2002 eröffnete die „Kommission für die Nachhaltigkeit der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“, später als „Rürup-Kommission“ bekannt geworden, die Diskussion um die Erhöhung der Rentenaltersgrenze auf 67 Jahre. Der sukzessive Abbau der Anreize für Frühverrentung führte 2013 dazu, dass in der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen erstmals wieder mehr Menschen erwerbstätig als im Ruhestand waren.15 ► Abb 2

Arbeitslosenversicherung

Die beitragsfinanzierte Erwerbslosenfürsorge nach der Reichsverordnung vom 15. Oktober 1923 vergab ihre Leistungen nach Kriterien der Bedürftigkeit. Das Versicherungssystem entstand mit dem Arbeitsvermittlungs- und Arbeitslosenversicherungs-Gesetz (AVAVG) vom 16. Juli 1927, das einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld ohne Bedürftigkeitsprüfung festschrieb. Die Kopplung an die Vermittelbarkeit beschränkte den Leistungsempfang auf Personen, die arbeitsfähig und willig sowie unfreiwillig arbeitslos waren. Die Mittel wurden zu gleichen Teilen von Versicherten und Arbeitgebern aufgebracht, wobei der Höchstsatz 3 Prozent des Grundlohns betrug.
Die Konstruktionsmängel der Arbeitslosenversicherung offenbarten sich unmittelbar nach ihrer Einführung. Als die Arbeitslosigkeit im Zuge der Weltwirtschaftskrise dramatisch stieg, wurden durch die zeitliche Begrenzung des Leistungsbezugs auf ein Jahr immer mehr Arbeitslose aus dem Versicherungssystem ausgeschlossen. Für sie trat der Staat mittels der Krisenfürsorge ein, um die Überforderung der kommunalen Fürsorge zu verhindern. Gleichzeitig erwirtschaftete die Arbeitslosenversicherung Gewinne, weil sie immer weniger Leistungsempfänger zählte. Sie erwies sich als tauglich, Konjunkturarbeitslosigkeit aufzufangen, versagte aber in Bezug auf Dauerarbeitslosigkeit. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging die Zahl der Leistungsempfänger stark zurück, was nicht nur Arbeitsbeschaffung und Rüstungskonjunktur, sondern auch den Ausschluss von Bevölkerungsgruppen aus dem Sozialversicherungssystem durch das Regime widerspiegelte. ► Tab 5

Die kriegsbedingte Arbeitskräfteknappheit endete mit der Kapitulation im Mai 1945. Bis zur Währungsreform im Juni 1948 hamsterten die Unternehmen Arbeitskräfte, weil Lohnkosten eine geringe Rolle spielten. Nach der Reform war die Beschäftigung leicht rückläufig, weil die Unternehmen die vorher gehorteten Arbeitskräfte freisetzten. Bei Gründung der Bundesrepublik bestand ein Sockel von weit über einer Million Arbeitslosen, die wegen fehlender Anwartschaftszeiten nur zu einem Bruchteil reguläres Arbeitslosengeld erhielten. Die strukturelle Arbeitslosigkeit dieser Jahre war vorrangig ein Ergebnis der Fehlallokation der Flüchtlinge und Vertriebenen. Die boomende Wirtschaft fragte immer mehr Arbeitskräfte nach, sodass bis 1959 Vollbeschäftigung erreicht wurde, das heißt nach internationaler Auffassung eine Arbeitslosenquote unter 3 Prozent. Die Nachfrage nach Arbeitskräften war so groß, dass nicht nur der Zustrom aus der DDR integriert werden konnte, sondern gleichzeitig ausländische Arbeitskräfte angeworben wurden. Nach Ende der Rekonstruktionsperiode und den Ölkrisen der 1970er Jahre stieg die Arbeitslosigkeit wieder schubweise an. Im Konjunkturhoch ging sie aber nicht mehr zurück, sondern eine Sockelarbeitslosigkeit verblieb. Ein weiterer markanter Anstieg war nach 1990 durch den Zusammenbruch der ostdeutschen Planwirtschaft zu verzeichnen. Seit 2006 ist die Arbeitslosenrate in Deutschland wieder rückläufig.16 ► Tab 5, Abb 3

Fürsorge / Sozialhilfe

Seit 1924 legten allgemeine Reichsgrundsätze die Bestimmungen zu „Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ fest, ohne jedoch eine einheitliche Höhe der Unterstützungssätze vorzuschreiben. In der Zwischenkriegszeit stand die Entwicklung der Fürsorgeempfängerstatistik in engem Zusammenhang mit anderen Teilen des Sozialleistungssystems. Mit dem Zusammenbruch des Sozialversicherungssystems im Jahr 1945 schloss die Fürsorge die Lücken bei der Unterstützung der Hilfsbedürftigen. In allen Besatzungszonen verzeichnete man Fürsorgequoten von bis zu 6 Prozent der Gesamtbevölkerung.17 Meistenteils handelte es sich bei den Unterstützungsempfängern um Flüchtlinge und Vertriebene, die zu Millionen aus den Ostgebieten eingeströmt waren. Während die DDR den Unterstützungsempfang über eine forcierte Arbeitsintegration rasch abbaute, blieb in der Bundesrepublik ein Sockel von rund einer Million Fürsorgeempfängern bestehen.
1960 trat im Westen ein wesentlicher Reformschritt mit der Einführung der Sozialhilfe ein. Auf der Grundlage des Prinzips der Nachrangigkeit und unter Beibehaltung der Individualisierung wurde die Regelleistung („laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“) um „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ erweitert. Zahlenmäßig entwickelte sich der Sozialhilfeempfang parallel mit der steigenden Arbeitslosigkeit. Eine große Reform erlebte das Fürsorgesystem 2005 durch die Hartz-IV-Reform, die für den erwerbsfähigen Teil der Bevölkerung das Arbeitslosengeld II an die Stelle der Sozialhilfe setzte. ► Tab 6

Zeitreihen DDR

Begreift man die korporatistische Tradition als die Besonderheit der deutschen Sozialstaatsgeschichte, verblieb auch in der DDR ein Rest an Pfadabhängigkeit. Die unter Bismarck eingeführte Sozialversicherung wurde als Kernstück des Sozialsystems weitergeführt, erfuhr aber tief greifende Änderungen: Die paritätische Leitungsstruktur wurde abgeschafft, sodass die Arbeitgeber bzw. die Betriebsleitungen nicht mehr an der Leitung der Sozialversicherung beteiligt waren, sondern der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) ihre Verwaltung allein übernahm. Seit 1947 war sie als einheitliche Pflichtversicherung konzipiert und erfasste durchweg rund 90 Prozent der DDRBevölkerung. Nur Mitglieder der landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktionsgenossenschaften sowie freiberuflich Tätige gehörten der gesonderten Staatlichen Versicherung der DDR an. Die Einheitsversicherung unterteilte sich in einen Kranken- und einen Rentenversicherungszweig. Die Leistungsstruktur wurde zuungunsten des Elements der Versorgung verändert und größere Teile des Sozialrechts auf das Fürsorgeprinzip umgestellt, sodass die Bedürftigkeitsprüfung verstärkt in die Bewilligungspraxis Einzug hielt.
In der Rentenversicherung fand kein großzügiger Ausbau des Leistungssystems statt, und mehr als die Hälfte der Rentnerhaushalte lebte an oder unterhalb der Armutsgrenze. Im Kontrast dazu standen die Äußerungen der Staatsführung, sprach doch Erich Honecker von der „Wertschätzung“, die den „Veteranen der Arbeit“ im sozialistischen Staat zukomme. Die Wiedervereinigung war vor allem für die Rentner ein Erfolg: Mit der Währungsunion stiegen die Renten sofort um ein Viertel, bei niedrigen Renten fast um die Hälfte. Die Entwicklung hielt an, sodass 1997 die Durchschnittsrente Ost fast das Dreifache des Niveaus der Wendezeit erreichte.18
Die relativ hohe Arbeitslosigkeit in der DDR 1950 beruhte kaum mehr auf den regionalen Strukturproblemen der Nachkriegszeit, sondern auf der Erweiterung der Arbeitspflicht. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg seit Herbst 1948 vor allem durch die Pflichterfassung von Frauen, die vorher wegen Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen vom Arbeitseinsatz freigestellt waren. Diese Gruppe war selbst mit behördlichem Druck nicht schnell in Arbeit vermittelbar. Dennoch erreichte man in der DDR bereits im Juli 1951 Vollbeschäftigung im oben genannten Sinne. Danach marginalisierte sich das Problem der Arbeitslosigkeit, weil die zentrale Planwirtschaft das verfügbare Arbeitskräftepotenzial wie ein Schwamm aufsog. Die Arbeitslosenversicherung wurde 1978 endgültig abgeschafft.19 ► Tab 7, Abb 4

Datengrundlage

Daten zur Sozialpolitik gibt es auch für die Periode vor Einführung der Bismarckschen Sozialversicherung, aber nur auf kommunaler oder einzelstaatlicher Ebene. Erst mit diesem Markstein der deutschen sozialstaatlichen Entwicklung tritt die systematische Sammlung auf Reichsebene durch das Kaiserliche Statistische Amt ein. Diese offiziellen statistischen Daten bilden die Grundlage für die hier zusammengestellten langen Reihen, die mit der Aufnahme des jeweiligen Zweigs der Sozialversicherung in das Statistische Jahrbuch einsetzen. Eine große Hilfe leistete eine Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der zentralen amtlichen Statistik Deutschlands20, die unter Berücksichtigung der zahlreichen methodischen Probleme einen ersten Versuch zur Erstellung säkularer Datenreihen unternahm. Darüber hinaus leisteten die bearbeiteten statistischen Reihen in den Beiheften zur „Geschichte der Sozialpolitik seit 1945“ sowohl für die Bundesrepublik als auch für die DDR wertvolle Dienste.21
Die statistischen Lücken, die vor allem für die Perioden der Weltkriege zu beklagen sind, konnten in der vorliegenden Edition nicht geschlossen werden. Die Statistiken zur DDR wurden in einer eigenen Tabelle zusammengeführt, weil das Erhebungssystem sich zu stark von dem westdeutschen unterschied, auch wenn es um scheinbar einfache Kategorien wie den Mitgliedsstand in der Sozialversicherung oder die Ausgaben für ein bestimmtes Risiko ging. In diesem wie in den übrigen Fällen wurden die Grundlagen der statistischen Erhebung aus den benutzten Werken ohne weitere Korrekturen übernommen.

Zum Weiterlesen empfohlen

  • Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden 2001 – 2008.
  • Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 4 Abteilungen, 32 Bde., Wiesbaden / Stuttgart / Darmstadt 1966 – 2009.
  • Johannes Frerich / Martin Frey: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 3 Bde., München 1993.
  • Gerd Hardach: Der Generationenvertrag. Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutschland in zwei Jahrhunderten, Berlin 2006.
  • Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011.
  • Heinz Lampert / Jörg Althammer: Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. Aufl., Berlin 2007.
  • Gabriele Metzler: Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, 2. Aufl., München 2003.
  • Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl., München 1991.
  • Manfred G. Schmidt: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 2. Aufl., Opladen 1998.
  • Michael Stolleis: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriß, Stuttgart 2003.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

Anmerkungen

  1. Franz-Xaver Kaufmann: Der Begriff Sozialpolitik und seine wissenschaftliche Deutung, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/ Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1: Grundlagen der Sozialpolitik, BadenBaden 2001, S. 18f.
  2. Michael Stolleis: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, Stuttgart 2003, S. 54 – 61.
  3. Stolleis (Anm. 2), S. 78f.; Johannes Frerich/Martin Frey: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reichs, München 1993, S. 97f., 113.
  4. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1916, S. 372.
  5. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1940, S. 474.
  6. Detlev Zöllner: Sozialpolitik, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Wirtschaft, Frankfurt a. M. 1989, S. 380f.; Stolleis (Anm. 2), S. 287.
  7. Stolleis (Anm. 2), S. 81f.
  8. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1915, S. 376 – 379.
  9. Frerich/Frey, Bd. 1 (Anm. 3), S. 295; Stolleis (Anm. 2), S. 157, 200.
  10. Zöllner (Anm. 6), S. 380f.; Frerich/Frey (Anm. 3) Bd. 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, München 1993, S. 64, 283.
  11. Gerd Hardach: Der Generationenvertrag. Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutschland in zwei Jahrhunderten, Berlin 2006, S. 167–173.
  12. Ebd., S. 230 – 233; Frerich/Frey, Bd. 1 (Anm. 3), S. 213, 300 – 303.
  13. Frerich/Frey, Bd. 3 (Anm. 10), S. 6f.
  14. Ebd. S. 49 – 57; Zöllner (Anm. 6), S. 376f.
  15. Boris Krause: Demografischer Wandel und verbandliche Interessenvermittlung. „Rente mit 67“ und „Wet VLP“ im Vergleich, Münster 2012, S. 175 –178; Mehr Ü-60-Erwerbstätige als Ruheständler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. August 2013.
  16. Mark Spoerer/Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2013, S. 273f.
  17. Marcel Boldorf: Sozialfürsorge in der SBZ/ DDR. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998, S. 33; Matthias Willing: Fürsorge/Sozialhilfe (Westzonen), in: Geschichte der Sozialpolitik seit 1945, Bd. 2 /1, S. 601.
  18. Beatrix Bouvier: Die DDR – ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002, S. 210; Gerhard A. Ritter: Thesen zur Sozialpolitik der DDR; in: Dierk Hoffmann/ Michael Schwartz (Hrsg.): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945 / 49 –1989, München 2005, S. 11– 29.
  19. Boldorf (Anm. 17), S. 46 – 57; Frerich/Frey (Anm. 3), Bd. 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993, S. 172 –175.
  20. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hrsg.): Bevölkerung und Wirtschaft 1872 –1972, Stuttgart 1972.
  21. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. West (Hermann Berié), Bd. SBZ/DDR (André Steiner), Bonn 1999 /2006.