17 Landwirtschaft

Michael Kopsidis

Der Durchbruch zu einem von Produktivitätssteigerungen getragenen modernen Wachstum erfolgte in der deutschen Landwirtschaft während der Industrialisierung. Entscheidend waren hierbei nicht wissenschaftsbasierte industrielle Inputs, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg das Agrarwachstum trugen, sondern der durch die boomende Lebensmittelnachfrage urban-industrieller Schichten ausgelöste Übergang zu intensiven Betriebssystemen, die nach heutigen Begriffen unter die ökologische Landwirtschaft fallen.

Durchbruch zum modernen Agrarwachstum

In Deutschland vollzog sich der Übergang zum modernen Wachstum in der Landwirtschaft parallel zur industriellen Revolution. Erstmals gelang es, die engen Grenzen des landwirtschaftlichen Wachstums zu überwinden, denen vorindustrielle Ökonomien unterworfen waren. Produktivitätssteigerungen wurden zur wichtigsten Triebkraft der agrarischen Entwicklung. Die Ausdehnung der Nutzfläche und des Arbeitseinsatzes verloren ihre bis dahin überragende Bedeutung für die Erhöhung der Agrarerzeugung. Über die letzten 160 Jahre ist die reale landwirtschaftliche Wertschöpfung im langfristigen Durchschnitt um jährlich 1,6 Prozent gewachsen.1
Der Übergang zum modernen Agrarwachstum setzte bereits im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in immer mehr Regionen ein, um sich dann im Kaiserreich flächendeckend zu vollziehen. Bereits im Zuge der Industrialisierung begann das agrarische Produktivitätswachstum sich dauerhaft zu vervielfachen. Nur so ist zu erklären, dass es gelang, eine beständig wachsende Bevölkerung bei sinkendem Anteil der agrarisch Beschäftigten immer besser zu ernähren. Während der deutschen Industrialisierung ermöglichten die Leistungssteigerungen der Landwirtschaft eine alle vormodernen Erfahrungen übertreffende demografische Expansion und eine forcierte Urbanisierung (vgl. den Beitrag von Georg Fertig und Franz Rothenbacher).
In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war es dabei nicht die Übertragung industrieller Technologien auf die landwirtschaftliche Erzeugung, sondern der Übergang von einer stark subsistenz zu einer marktorientierten Landwirtschaft, der das Agrarwachstum trug. Mit expandierender städtischer Industriebevölkerung und den nach 1870 zunehmenden Realeinkommen kam es zu einer über Jahrzehnte beständig steigenden Nachfrage nach Lebensmitteln. Insbesondere die Preise für wertschöpfungsintensive tierische Erzeugnisse wie Molkereiprodukte und Fleisch entwickelten sich nachfragebedingt über Jahrzehnte nur in eine Richtung, nämlich nach oben.2 Die über immer besser funktionierende Märkte vermittelten Nachfrageeffekte machten für die Masse der Agrarproduzenten erstmals den mit erheblichen Risiken und Kosten verbundenen Übergang zu neuen, produktiveren und intensiveren Betriebssystemen lohnend.
Am Anfang des 19. Jahrhunderts stellte der Mangel an Stickstoff die entscheidende Beschränkung für Ertragssteigerungen dar. Eine Agrarrevolution beinhaltete unter diesen Umständen mehr als alles andere die Überwindung der Stickstoffbarriere. Erreicht wurde dies durch in langwierigen Suchprozessen von der landwirtschaftlichen Praxis selbst entwickelte Betriebssysteme, die sich vereinfachend unter den Stichworten Fruchtwechselwirtschaft und intensivierte Stallhaltung zusammenfassen lassen. Erhebliche agrarische Produktivitätszuwächse resultierten dabei vornehmlich aus dem Übergang zu neuen, arbeitsintensiven, Brache reduzierenden, vielfältigen Fruchtfolgen mit vermehrtem Futteranbau. Erstmals gelang es, gleichzeitig die pflanzliche und tierische Erzeugung zu steigern. Beide Komponenten wurden innerhalb des Betriebes in einem Kreislauf so miteinander verbunden, dass sich die Nährstoffversorgung des Bodens – insbesondere mit Stickstoff – nachhaltig verbesserte. Vermehrter Futteranbau und Stallhaltung erhöhten den betrieblichen Viehbesatz. So vervielfachte sich die im Betrieb verfügbare Menge an organischem Dünger. Gleichzeitig führten die neuen Futterpflanzen, an erster Stelle ist hier Klee zu nennen, dem Boden Stickstoff zu. Vermehrte Gründüngung durch den Anbau von Zwischenfrüchten trug ebenfalls zu Bodenverbesserungen bei. Gleiches galt für Meliorationen. Neue tierische und pflanzliche Zuchtlinien erhöhten ebenfalls die Erträge. Zur Erklärung des beschleunigten Agrarwachstums bis zum Ersten Weltkrieg spielte Kunstdünger dagegen noch eine eher untergeordnete Rolle.
Während der Industrialisierung war es somit der marktinduzierte Übergang zu hochintensiven Formen der ökologischen bzw. integrierten Landwirtschaft, der das sich entfaltende moderne Agrarwachstum trug. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lag ausschließlich der massiv erhöhte Einsatz wissenschaftsbasierter, industriell gefertigter Inputs wie Kunstdünger, Pflanzenschutzmittel und Maschinen aller Art dem Agrarwachstum zugrunde.

Technischer Fortschritt in der Landwirtschaft

Der technische Fortschritt weist dabei insbesondere in historischer Perspektive ausgeprägte sektorale Besonderheiten auf. Eine häufig vollzogene simple Übertragung von Entwicklungsmustern der industriellen Produktion auf die Landwirtschaft führt daher in die Irre. Sogenannte Economies of Scale bzw. Größenvorteile der Erzeugung, die für die Entstehung industrieller Großbetriebe seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich waren, lagen in der Landwirtschaft bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg nur in sehr abgeschwächtem Maße vor. Vielmehr überwiegen bis in die unmittelbare Gegenwart die gravierenden Nachteile großbetrieblicher Einheiten. Diese resultieren aus den im Unterschied zur Industrie sehr hohen Management- und Kontrollkosten und der in dieser Form nur in der Landwirtschaft gegebenen Überlegenheit eigenmotivierter Familienarbeitskräfte gegenüber Lohnarbeitern. Hinzu kommt die höhere Flexibilität kleinerer Betriebseinheiten. Der landwirtschaftliche Familienbetrieb stellt somit kein vormodernes Relikt dar, sondern auch unter kapitalistischen Wettbewerbsbedingungen eine optimale Anpassung an die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen.3
Was die Landwirtschaft ebenfalls grundsätzlich von der Industrie unterscheidet ist die bedeutende Rolle des sogenannten biologisch-technischen Fortschritts, der für alle agrarischen Ertragssteigerungen verantwortlich ist. Dieser umfasst alle Formen der verbesserten Effizienz biologischer Prozesse. Biologisch-technischer Fortschritt umfasst neue Kulturpflanzen und Fruchtfolgen, neue Saaten und Rassen, aber auch die Einführung industrieller Inputs wie Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel. Das Besondere am biologisch-technischen Fortschritt ist, dass seine Inputs beliebig teilbar sind und er somit nicht an bestimmte Mindestbetriebsgrößen gebunden ist. Allgemein gilt, dass vom biologisch-technischen Fortschritt kein Druck auf bestehende landwirtschaftliche Betriebsstrukturen ausgeht. Brache reduzierende, mit vermehrter Stallhaltung einhergehende, arbeitsintensive Formen des biologisch-technischen Fortschritts ohne industrielle Inputs ließen sich dabei gerade in (kleinen) Vollerwerbsfamilienbetrieben effektiv realisieren.
Nach bisheriger Erfahrung haben erst fortgeschrittene Formen eines forcierten mechanisch-technischen Fortschritts das Potenzial, die Wettbewerbsfähigkeit von Kleinbetrieben drastisch zu verschlechtern und kleinteilige Agrarstrukturen unter Druck zu setzen. Nur eine konsequente Maschinisierung geht einher mit einer Änderung der landwirtschaftlichen Basistechnologie, indem tierische und menschliche Muskelkraft als wichtigste Energielieferanten durch elektrische und kraftstoffgetriebene Motoren abgelöst werden. Hierzu ist es in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen. Wachsende betriebliche Durchschnittsgrößen ließen sich dabei aber noch im Rahmen der Familienwirtschaft realisieren.

Phasen der Agrarentwicklung 1850 bis 2010

Wie bereits erwähnt, basierte der entscheidende Durchbruch hin zum modernen agrarischen Wachstum vornehmlich auf arbeitsintensiven Formen eines marktinduzierten biologisch-technischen Fortschritts, wobei industriellen Inputs bestenfalls eine marginale Rolle zukam. Neuere Forschungen belegen dabei eindeutig den hohen Grad an Marktorientierung und die Flexibilität bäuerlicher Produzenten. Dies ermöglichte, dass die landwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts parallel zur Industrialisierung auf immer breiterer Front an Fahrt gewann. So konnte sich in der langen agrarischen Boomphase bis zum Ersten Weltkrieg in Deutschland einer der wichtigsten Modernisierungsprozesse vollziehen, die sogenannte „strukturelle Transformation“ bzw. der Übergang vom Agrar- zum Industriestaat. Die Landwirtschaft hörte auf, den größten volkswirtschaftlichen Sektor zu bilden.
Die Zwischenkriegszeit bedeutete aus vielfältigen Gründen im besten Fall eine Stagnation des agrarischen Wachstums. Schwere globale Agrarkrisen bis hin zum Zusammenbruch des Weltagrarhandels im Zuge der Weltwirtschaftskrise verhinderten eine Fortsetzung des Agrarbooms. Bemerkenswert ist, dass es trotz eines massiv ansteigenden Einsatzes an Kunstdünger, der Elektrifizierung der Hofwirtschaft und einer immer stärker industriegebundenen, beschleunigten Verwissenschaftlichung der Wissensgenerierung im Agrarsektor gerade gelang, wieder das Vorkriegsniveau der Flächenerträge zu erreichen. Das agrarische Produktivitätswachstum erlahmte. Massiv gestörte Agrarmärkte waren für diese Wachstumsschwäche verantwortlich. Hinzu kam, dass die neuen Formen einer mehr industrialisierten Landwirtschaft sich noch im Versuchs- und Übergangsstadium befanden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dann zu einer zweiten, lang anhaltenden Phase beschleunigten agrarischen Produktivitätswachstums. Mechanisch-technischer und biologisch-technischer Fortschritt, der erstmalig ausschließlich auf wissenschaftsbasierten industriellen Inputs beruhte, bildeten in Kombination die Hauptantriebskräfte. Binnen zweier Jahrzehnte vollzog sich die fast vollständige Maschinisierung der Agrarproduktion. Die Maschinisierung war dabei verbunden mit einer massiven Erhöhung der Kapitalintensität. Die Abhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion von Vorleistungen aus anderen Sektoren der Volkswirtschaft erreichte nach 1950 ganz neue Dimensionen. Dabei hatten der technische Fortschritt und der steigende landwirtschaftliche Kapitaleinsatz eine eher defensive Funktion. Sie waren notwendig, um das durch steigende industrielle Reallöhne in Gang gesetzte rapide Abschmelzen des noch in der Zwischenkriegszeit mehr oder weniger konstanten Einsatzes von Arbeitskräften in der Landwirtschaft zu kompensieren. Die Anteile der Landwirtschaft an den Beschäftigten und am Volkseinkommen sind nach 1950 auf volkswirtschaftlich vernachlässigbare Größen abgesunken (vgl. die Kapitel zu Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und zu Arbeit, Einkommen und Lebensstandard).

Indikatoren der Agrarentwicklung

Der langfristige Verlauf des agrarischen Wachstumsprozesses schlägt sich in seinen unterschiedlichen Phasen deutlich in den im Folgenden dargelegten Zeitreihen zu landwirtschaftlichen Schlüsselindikatoren nieder. Diese beinhalten die Landnutzung, die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, den Viehbestand, die wichtigsten Flächenerträge, den Kunstdüngereinsatz und die agrarische Betriebsstruktur.
Zwischen 1883 und 1913 umfasste die landwirtschaftliche Nutzfläche fast unverändert durchgehend um die 35 Millionen Hektar. In den neuen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg stieg sie zwischen 1925 und 1930 leicht an von 28,5 auf 29,4 Millionen Hektar. Der gesamte Flächenzuwachs vollzog sich während der Weimarer Republik. Zwischen 1938 und 1997 bewegte sich die landwirtschaftliche Nutzfläche der alten Bundesländer zwischen 13 und 14 Millionen Hektar, um erst danach auf 12,6 Millionen Hektar (2010) abzusinken. Auf dem Gebiet der früheren DDR sank die Nutzfläche zwischen 1950 und 2010 ebenfalls nur langsam ab von 6,5 auf 6,1 Millionen Hektar. Eine gewisse Konstanz weisen dabei auch die Anteile des Acker- und des Grünlandes an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche auf.4 ► Tab 1, Abb 1

Soweit Nutzflächenverluste eintraten, lag dies weniger an einer Ausdehnung der Forstflächen. Die durchschnittliche jährliche Zunahme der Waldflächen war über den ganzen Zeitraum vernachlässigbar gering mit einer jährlichen Rate von 0,05 Prozent zwischen 1883 und 1938 und 0,15 Prozent für beide deutschen Staaten von 1950 bis 1989. Danach kam es zu einem leicht beschleunigten Zuwachs von 0,19 Prozent für die alten und 0,17 Prozent für die neuen Bundesländer. Entscheidend für landwirtschaftliche Flächenverluste war vielmehr die enorme Beschleunigung der Flächenbebauung für Infrastruktur- und Siedlungszwecke.5 Verglichen mit dem Kaiserreich verdoppelte sich schon während des Nationalsozialismus das jährliche Wachstum der bebauten Fläche von 0,2 Prozent (1883 –1918) auf 0,4 Prozent (1932  –1938). Die enorme wirtschaftliche Dynamik der Bundesrepublik äußerte sich dann in einer Verdreifachung der jährlichen Zunahme der bebauten Fläche (1,3 Prozent) zwischen 1950 und 1989, während dieser Wert für die DDR nur knapp halb so hoch bei 0,6 Prozent lag. Nach 1989 hat sich dann die Geschwindigkeit der Flächenversiegelung deutlich reduziert auf jährlich 0,69 Prozent in den alten und 0,41 Prozent in den neuen Bundesländern.
Die Ausbreitung sehr arbeitsintensiver Betriebssysteme der integrierten Landwirtschaft führte dazu, dass die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte zwischen 1895 und 1907 weiter kräftig anstieg von 8,3 auf 9,9 Millionen. Erst in den 1920er Jahren begann die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen langsam abzunehmen. Nach 1950 erreichte der Schrumpfungsprozess in der Landwirtschaft dann eine ganz neue Dynamik. Gegenüber dem Zeitraum von 1925 bis 1939 vervielfachten sich die jährlichen Abnahmeraten von 1950 bis 1989 von – 0,6 Prozent auf – 3,7 Prozent in den alten Bundesländern. Danach schwächte sich die Abwärtsdynamik ab auf –2,6 Prozent (1989 – 2010). In der ehemaligen DDR verschärfte sich dagegen der Arbeitskräfteabbau nach 1989 von jährlich –2,7 Prozent auf –3,9 Prozent. Diese Entwicklung spiegelt die zügige Restrukturierung der landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung wieder, bei der hochproduktive Agrarbetriebe entstanden. ► Abb 2

Festzuhalten bleibt noch, dass sich von 1925 bis 1939 die Zahl der Familienarbeitskräfte kaum verminderte (– 0,2 Prozent pro Jahr), während die der familienfremden bereits deutlich abzunehmen begann (– 1,7 Prozent). Zwischen 1950 und 1989 setzte dann auch in der Bundesrepublik bei den Familienarbeitskräften der Abbau ein (– 3,5 Prozent), wobei die jährlichen Abnahmeraten bei den familienfremden mit – 4,8 Prozent aber immer noch deutlich höher lagen. Der Übergang zu einer voll maschinisierten Landwirtschaft war demnach mit einer ausgeprägten Familiarisierung der landwirtschaftlichen Arbeit verbunden. Nur so ließ sich die Abwanderung der Arbeitskräfte in die Industrie kompensieren.
Von den drei Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital wuchs nur der landwirtschaftliche Kapitalstock bestehend aus Gebäuden, Maschinen und Geräten, Vieh und Vorräten beständig mit jährlich 1,25 Prozent vor dem Zweiten Weltkrieg und 1,54 Prozent in der jungen Bundesrepublik.6 Auffallend ist die Beschleunigung des Wachstums des Kapitalbestandes an landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten von ca. 1,5 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg (1850 –1913) auf 3,2 Prozent nach dem Zweiten Weltkrieg (1950 –1959). Maschinen und Geräte verdoppelten ihren Anteil am landwirtschaftlichen Kapitalstock zwischen 1850 und 1959 von ca. 11,5 Prozent auf 22,6 Prozent, während der Anteil aller anderen Arten von Kapitalgütern abnahm. Die Erhöhung des Kapitaleinsatzes pro Arbeitskraft trug mit zu den enormen Steigerungen der agrarischen Arbeitsproduktivität bei. ► Tab 4

Vieh stellt einen wichtigen Bestandteil des landwirtschaftlichen Kapitalstockes dar mit einem Anteil von durchgehend ca. 25 Prozent zwischen 1850 und 1938 und noch 18 Prozent um 1960. Bei enormen Steigerungen der Leistung pro Tier entwickelte sich auch der Viehbestand positiv.7 Getragen von der beständig wachsenden Fleischnachfrage der urbanen Industriearbeiterschaft und des Mittelstandes verdreieinhalbfachte sich der deutsche Schweinebestand im Kaiserreich. Die jährlichen Wachstumsraten von 3,2 Prozent zwischen 1873 und 1913 wurden in Deutschland weder vorher noch nachher jemals wieder erreicht. Sie lagen aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch über 1,5 Prozent. Die Rinder- und Geflügelbestände entwickelten sich ebenfalls bis 1989 in ganz Deutschland positiv. Deutliche Einbußen verzeichneten dagegen Schafe, die schon während des Kaiserreiches bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges auf knapp ein Viertel ihres Ausgangsbestandes von 1873 herabsanken. Dieser Trend setzte sich bis 1989 fort. Die Pferdebestände begannen sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der forcierten Maschinisierung der Landwirtschaft zu verringern. Sie sanken bis 1989 auf ein Viertel (Bundesrepublik) bzw. fast ein Siebtel (DDR) ihres Ausgangsbestandes von 1950. Seit Ende der 1980er Jahre hat sich die Geschwindigkeit der Bestandsentwicklung aller Nutztiere in den alten und neuen Bundesländern deutlich vermindert bzw. die Bestände nahmen, wie bei Rindern, sogar ab. In den neuen Bundesländern kam es mit der Wende sogar zu einem regelrechten Einbruch. Rinder-, Schweine- und Schafbestände sanken bis 2007 auf 40 bis 25 Prozent ihrer Werte von 1989.
Der Viehbestand liefert den größten Teil der landwirtschaftlichen Wertschöpfung, vornehmlich bestehend aus Molkerei- und Fleischprodukten. Der Anteil der tierischen an der gesamten landwirtschaftlichen Erzeugung stieg dabei schon vor dem Ersten Weltkrieg von 48 Prozent um 1850 auf knapp 70 Prozent um 1913. Bis heute hat er eher noch weiter zugenommen.8 Wuchs die deutsche Fleischproduktion seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg um jährlich 2,4 Prozent, so stieg diese Rate für den Zeitraum von 1949 bis 1989 gesamtdeutsch auf 3,2 Prozent an. Seitdem stagniert die Fleischerzeugung. Die deutsche Landwirtschaft wird somit seit mehr als 100 Jahren von der Tierproduktion geprägt. ► Tab 3, Abb 3

Das anhaltende Wachstum der pflanzlichen Produktion beruht seit Ende der 1870er Jahre fast ausschließlich auf steigenden Flächenerträgen. Diese wuchsen zwischen 1850 und 1913 bei stark nachgefragten Getreiden wie Weizen und Gerste pro Jahr um durchschnittlich 1,1 Prozent und bei Kartoffeln um 1,2 Prozent an. In der Zwischenkriegszeit gelang es meistens nur, das Vorkriegsertragsniveau wieder zu erreichen. In den vier Jahrzehnten nach 1950 stiegen die jährlichen Ertragszuwächse in der ehemaligen Bundesrepublik bei Weizen und Gerste auf Werte zwischen 1,9 und 2,4 Prozent an. Ähnliche Zuwächse erreichten Runkelrüben (2,9 Prozent), während die Erträge für Kartoffeln und Zuckerrüben um 1,3 Prozent zunahmen. Weniger dynamisch, aber immer noch kräftiger als im Kaiserreich verlief die Ertragsentwicklung in der DDR. Nach 1990 verlangsamte sich das Flächenertragswachstum deutlich. Hier scheint die veränderte Agrarförderung der EU, weg von produktionsgebundenen Beihilfen, Wirkung gezeigt zu haben.9 ► Tab 1, Tab 2, Abb 4

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich die Flächenerträge bei Getreide und Hackfrüchten je nach Anbaupflanze verfünf- bis verachtfacht. Über die Hälfte bis zwei Drittel dieser Ertragszuwächse vollzogen sich nach 1950. Eine maßgebliche Rolle hat hierbei seit dem Ersten Weltkrieg Kunstdünger gespielt. Allein die Ausbringung an Stickstoff (Reinnährstoff) pro Hektar Nutzfläche hat sich von 1921/23 bis 1987/89 verdreizehnfacht, bei Phosphat versechs-, bei Kali verdrei- und bei Kalk vervierfacht. Knapp über 80 Prozent des Zuwachses haben sich bei Stickstoff und Kalk nach 1950 vollzogen, während die entsprechenden Werte für Phosphat und Kali bei 65 Prozent bzw. 37 Prozent liegen. Seinen Höhepunkt erreichte der mit erheblichen Umweltfolgen verbundene Einsatz von Kunstdünger Ende der 1980er Jahre. Seitdem ist der Einsatz an Stickstoff pro Hektar um ein Fünftel, von Phosphat und Kali um ca. zwei Drittel und von Kalk um ein Viertel zurückgegangen. Die ökologisch motivierten Extensivierungsmaßnahmen der deutschen und europäischen Agrarpolitik haben somit neben anderen Maßnahmen einen Effekt.10 ► Tab 4, Abb 5

Die Art des technischen Fortschrittes hat einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Betriebsgrößen bzw. die Agrarstruktur gehabt. Da während der Industrialisierungsphase der landwirtschaftliche Fortschritt mit zunehmendem Arbeitseinsatz pro Flächeneinheit verbunden war, sanken bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg tendenziell die durchschnittlichen Betriebsgrößen. Der schon hohe Anteil der Betriebe unter 20 Hektar an der gesamten Nutzfläche nahm zwischen 1882 und 1925 sogar noch zu, von 58,3 Prozent auf 65,7 Prozent (alte Bundesländer), während alle anderen Betriebsgrößen Anteile verloren. Zwischen 1925 und 1939 stagnierte der Agrarstrukturwandel bei minimalen Flächenzugewinnen der Betriebe zwischen 10 und 50 ha. Nach 1949 verstärkte sich diese Tendenz in der Bundesrepublik, während in der DDR die Zwangskollektivierung zu großbetrieblichen Agrarstrukturen führte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann der technische Fortschritt spürbar Druck auf Klein- und später Mittelbetriebe auszuüben. Nach 1970 gewann der Strukturwandel in der Bundesrepublik deutlich an Fahrt und beschleunigte sich nach 1990 noch einmal vor allem zugunsten der Betriebe über 100 Hektar. In den alten Bundesländern bearbeiteten 2007 Betriebe über 50 Hektar fast 64 Prozent der Nutzfläche, während dies 1970 nur 12,5 Prozent gewesen waren. Der Anteil der Betriebe von unter 20 Hektar sank im gleichen Zeitraum von 51,4 Prozent auf 13,2 Prozent. In den neuen Bundesländern haben sich die großbetrieblichen Agrarstrukturen nach der Wende im Wettbewerb halten können und Betriebe über 100 Hektar kontrollieren gegenwärtig 93 Prozent der Nutzfläche. ► Tab 5, Abb 6

Datengrundlage

Schon im 18. Jahrhundert begannen deutsche Staaten, erste Statistiken zur Landwirtschaft zu erstellen. Führend war hierbei Sachsen, dass als einziger deutscher Staat schon für die Jahre 1791 bis 1812 und 1815 bis 1830 über eine jährlich erhobene, kleinräumig gegliederte Erntestatistik verfügte. Bis zur Gründung des Deutschen Reiches sind nur die nach 1815 in regelmäßigen Abständen durchgeführten Viehzählungen deutscher Staaten als halbwegs vollständig anzusehen, während die Erntestatistiken sich meistens auf Überschlagsschätzungen der Flächenerträge durch landwirtschaftliche Vereine beschränkten. Detaillierte Daten zur Bodennutzung einschließlich der landwirtschaftlichen Nutzfläche finden sich für einzelne deutsche Staaten und Jahre schon ab 1820 je nach Zeitpunkt der Erstellung eines Katasters zur Grundsteuerermittlung.
Eine systematische deutsche Erntestatistik, die jährlich Anbauflächen, Hektarerträge und die Erntemengen für fast alle Kulturpflanzen erfasst, existiert erst seit 1878 für das gesamte Deutsche Reich. Eine in größeren Abständen erhobene Betriebsstatistik, die neben der Zahl der Agrarbetriebe auch die Betriebsflächen und landwirtschaftlichen Arbeitskräfte erhebt, liegt seit 1882 vor. Angaben zur Bodennutzung gibt es in mehrjährigen Abständen seit 1878. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich mit Gründung der Bundesrepublik und der DDR die agrarstatistische Erhebungsdichte erheblich verbessert. Mit der Wiedervereinigung liegt auch wieder eine gesamtdeutsche Agrarstatistik vor.
Ausführliche aktuelle Statistiken finden sich nicht nur im vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Statistischen Jahrbuch für Deutschland, sondern mehr noch im Statistischen Jahrbuch über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Beide Publikationen sind online zugänglich.
Zu allen quantitativen Aspekten der historischen Agrarentwicklung bietet für den Zeitraum 1850 bis 1959 den besten Überblick immer noch Walther G. Hoffmann.11 In international vergleichender Perspektive zu nennen ist das Werk von Brian R. Mitchell.12 Neuere historische Forschungen präsentieren für einzelne deutsche Provinzen einen Überblick fast aller verfügbaren agrarstatistischen Daten im Zeitraum 1750 bis 1880.13 Die meisten Zeitreihen der genannten Werke mit Ausnahme von Mitchell sind online über GESIS verfügbar.14

Zum Weiterlesen empfohlen

  • Giovanni Federico: Feeding the World. An Economic History of Agriculture. 1800 – 2000, Princeton 2005.
  • Oliver Grant: Agriculture and Economic Development in Germany, 1870 –1939, in: Pedro Lains (Hrsg.): Agriculture and Economic Development in Europe since 1870, Abingdon 2009, S. 178 – 209.
  • Michael Kopsidis: Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie, Stuttgart 2006.
  • Michael Kopsidis: North-West Germany 1750 – 2000, in: Leen van Molle u.a. (Hrsg.): The Agro-Food Market. Production, Distribution and Consumption, Rural Economy and Society in North-western Europe. 500 – 2000, Turnhout 2013, S. 292 – 328.
  • Daniela Münkler (Hrsg.): Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000.
  • Stephan Tangermann (Hrsg.): Agriculture in Germany, Frankfurt a. M. 2000.
  • Frank Uekötter: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2010.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

Anmerkungen

  1. Eigene Berechnung nach Daten aus dem Kapitel zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
  2. Zwischen 1830 und 1870 stiegen die Agrarpreise nachfragebedingt beständig an und motivierten zu hohen landwirtschaftlichen Investitionen. Neben anhaltenden Nachfragesteigerungen sorgte nach 1879 ein zunehmender Agrarprotektionismus dafür, dass es zu einer Stabilisierung der Getreidepreise kam und sich insbesondere die wichtigen Preise für tierische Erzeugnisse weiter sehr dynamisch entwickelten.
  3. Es spricht einiges dafür, dass gegenwärtig landwirtschaftliche Großbetriebe substanziell an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, doch ist die diesbezügliche Diskussion in der Fachwelt noch offen.
  4. 1882 bis 1918 bewegte sich der Anteil des Ackerlandes an der Nutzfläche zwischen 72 und 74 Prozent. In der Zwischenkriegszeit lagen die Anteilswerte um die 71 Prozent. Das Gebiet der alten Bundesrepublik wies traditionell einen deutlich höheren Grünlandanteil als Mitteldeutschland und der Osten des Deutschen Reiches auf. Der Ackeranteil erreichte hier um 1950 nur 58 Prozent, um dann bis Anfang der 1980er Jahre auf 52 Prozent abzusinken. Danach stieg er wieder an. In der ehemaligen DDR erreichte der Ackeranteil im Durchschnitt Werte um 75 Prozent. Im wiedervereinigten Deutschland sind es gegenwärtig um die 63 Prozent.
  5. Zwischen 1950 und 2009 betrugen die Verluste an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Deutschland insgesamt knapp 2 Millionen Hektar, während die bebaute Fläche um 2,43 Millionen Hektar zunahm und die Forstflächen um 920 000 Hektar anwuchsen.
  6. Eigene Berechnungen, zu den Daten siehe Walther G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u. a. 1965, S. 228 – 231.
  7. Die auf einer sehr dünnen Datenbasis beruhenden Überschlagsschätzungen von Hoffmann legen nahe, dass die durchschnittlichen Schlachtgewichte von Schweinen und Rindern sich zwischen 1830 und 1905 ungefähr verdoppelt haben dürften von ca. 42 kg auf 85 kg bzw. 135 kg auf 250 kg (S. 297– 300).
  8. Eigene Berechnungen beruhend auf Zahlen aus Hoffmann (Anm. 6, S. 313). Die landwirtschaftliche Produktion berechnet sich nach Abzug von Aussaat, Verfütterung und Schwund, um Doppelzählungen in der tierischen und pflanzlichen Erzeugung zu vermeiden.
  9. Als Ergebnis einer mit hohen Kosten verbundenen produktions- gebundenen Agrarpolitik lag der Selbstversorgungsgrad (inklusive Erzeugung aus Auslandsfutter) Westdeutschlands 1978/82 mit 91 Prozent höher als 1935 im autarkieorientierten nationalsozialistischen Deutschland (85 Prozent).
  10. Der mengenmäßige Inlandsabsatz an Pflanzenschutzmitteln hat sich zwischen 1960 und 1979 verdreifacht. Seitdem steigt er im Trend immer noch, aber deutlich verlangsamt, an.
  11. Hoffmann (Anm. 6).
  12. Brian R. Mitchell: International Historical Statistics. Europe 1750 – 2000, 6. Aufl., Basingstoke u. a. 2007.
  13. Bernd Kölling (Hrsg.): Agrarstatistik der Provinz Brandenburg 1750 –1880, Historische Statistik von Deutschland, Band 25, St. Katharinen 1999; Meinolf Nitsch/Rita Gudermann (Hrsg.): Agrarstatistik der Provinz Westfalen 1750 –1880, Paderborn u. a. 2009.
  14. 14 http://www.gesis.org/histat/de/data/themes/21 (19.9.2014).