11 Kultur, Tourismus und Sport

Heike Wolter / Bernd Wedemeyer-Kolwe

Das Kapitel zu Kultur, Freizeit und Sport betritt in vielerlei Hinsicht Neuland. Alle Themen sind lange Zeit nur sporadisch von der Statistik erfasst worden. Zum ersten Mal wird der Versuch unternommen, lange Reihen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart darzustellen. Nicht nur Reihen zu Zeitungen, Theatern, Kinos, Büchern, Bibliotheken, Tourismus sowie Sportvereinen und ihren Mitgliedern liefern neue Einsichten, sondern auch der Vergleich verschiedener Freizeitaktivitäten.

Kulturgeschichte im Zeitraffer

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit starker gesellschaftlicher Umbruchserwartungen.1 So erlebte die adelige Kultur, die auch jene der bisherigen politischen Elite war, einen Niedergang. Das aufstrebende Bürgertum galt als kulturell interessiert, doch nach der Reichsgründung als gänzlich unpolitisch. Dies war durch die verfehlten Erwartungen der Revolution 1848 und die Manifestation eines Obrigkeitsstaates 1871 bedingt. Der Rückzug in die Innerlichkeit führte zu bürgerlichen Geselligkeitsformen, die sich eher dem Kleinen zuwandten. Vor dem Hintergrund eines scheinbar breiten Arrangements mit dem Gegebenen entstanden aber auch verschiedene Reformbewegungen, die Missstände aufgriffen und – auch kulturell – zur Diskussion stellten.
Die Jahre 1918 bis 1933 bedeuteten anschließend eine kulturelle Differenzierung und Sichtbarwerdung, die auch als Weimarer Kultur bezeichnet wird. Neben der Tatsache, dass diese Jahre kulturell teilweise hoch produktiv waren, verbanden und rieben sich hier traditionelle und moderne Vorstellungen von Kultur(würdigkeit). Es entstand erstmals eine wirkliche Massenkultur. Diese war einerseits stark auf Unterhaltung ausgerichtet, es existierte jedoch auch jener Bereich, in dem erbittert um kulturelle Ausdeutungen von Geschichte und Gegenwart gerungen wurde.
Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 gewannen zunächst konservative Kräfte die Deutungshoheit. Bedeutsam für die nun folgenden Jahre waren zwei Entwicklungen: zum einen der Gegensatz zwischen der staatlich verordneten Kulturpolitik und dem autonomen Wesen des Begriffes Kultur, zum anderen die Existenzbedingungen eines Kulturbetriebs in einer Diktatur und einer Kriegsgesellschaft. Statistisch nicht sichtbar wurden die diffizilen Aushandlungsstrategien Einzelner im Umgang mit der Diktatur. Die Umsetzung der „Volksgemeinschaft“ bedeutete eine kulturelle Öffnung hin zur und eine Ausrichtung an der Masse. Darunter wurde allerdings nur jener Teil der Gesellschaft verstanden, der der Ideologie des Nationalsozialismus entsprach. Die Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen führte zu einer unvollständigen Kulturgeschichte. Auch der massive kulturelle Exodus war kulturgeschichtlich höchst bedeutsam.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer doppelten, aber doch auch verzahnten deutschen Kulturgeschichte. In der 1949 gegründeten DDR war der Kulturbetrieb stark reglementiert, ideologisch geprägt und wurde als politisches Legitimationsfeld angesehen. Trotzdem wurde mit beachtlichen Parallelen zur Geschichte der Bundesrepublik Kultur als Mittel zur Umerziehung der Menschen nach den Verwerfungen des Nationalsozialismus gesehen. Auf der anderen Seite bestand eine klare Abgrenzung: Die DDR sah sich als das bessere Deutschland, ihre Kultur sollte diesen Standpunkt belegen. Erwünscht war das Hinarbeiten auf eine sozialistische Breitenkultur. Die Überzeugung, dass Kultur wesentlich unterhaltenden Charakter habe, setzte sich erst ab den 1970er Jahren durch. In den 1980er Jahren entstand mit dem Erstarken alternativer Kräfte in Ansätzen eine nonkonforme Kultur, die mit der Revolution 1989 politische Schlagkraft gewann.
In der Kulturgeschichte der Bundesrepublik zeigen sich wesentliche Entwicklungslinien der Kultur des „Westens“. Nur kurz vermochte nach 1945 die schiere materielle Not das kulturelle Leben weitgehend zum Erliegen bringen, schon bald wurde Kultur als „unverzichtbares moralisches Lebens- und Überlebensmittel“2 gesehen. Der rasch einsetzende wirtschaftliche Aufschwung war auch von einem kulturellen Wiederaufbau begleitet, der zwischen der Sehnsucht nach heiler Welt und der Aufarbeitung der Vergangenheit changierte. In den 1960er Jahren setzte mit dem Ende der Ära Adenauer eine Politisierung größerer Teile der Gesellschaft ein, die auch kulturell spürbar wurde. Ab den 1970er Jahren wurde die kulturelle Vielfalt durch die zunehmende Integration von Menschen aus anderen Kulturen und durch das weit verbreitete bürgerschaftliche Engagement bereichert. Hinzu kam die bis heute anhaltende Medialisierung. Durch die Enträumlichung, Entzeitlichung und Vervielfältigung von Kommunikation entstanden neue kulturelle Formen.
Mit der Wiedervereinigung sah sich die Kultur der Bundesrepublik einer komplizierten Situation ausgesetzt. Anfänglicher Euphorie folgte rasche Ernüchterung und die Frage nach der möglichen Inkorporation der DDR-Kultur. Es ergaben sich neue kulturelle Horizonte, in denen trotz aller Globalisierungstendenzen das Nationale – zuvor lange kaum betont – wieder eine größere Rolle spielte. Gleichwohl stellt(e) sich, bedingt durch die Multikulturalität Deutschlands, am Beginn des 21. Jahrhundert vor allem die Frage nach dem Sinn einer Leitkultur, die seitdem gesellschaftlich unter der Fragestellung eines auch kulturell „bunten“ Deutschlands immer wieder verhandelt wird.

Zeitungen: Vom Sprachrohr der Revolution zur Zeitungskrise

Die (politische) Presse entwickelte sich entscheidend durch die revolutionären Unruhen um 1848. Ihre Liberalisierung wurde in der Folge des Scheiterns der Revolution rasch zurückgenommen, was zu einem Zeitungssterben führte. Die Zahl der Titel ging von 1 680 im Jahr 1849 auf 401 im Jahr 1855 zurück. Bedingt durch technische Neuerungen setzte sich auf lange Sicht die Tages- und Wochenpresse trotzdem durch: Sie wurde aktuell, preiswert und massenhaft. ► Tab 1
Besonders lässt sich dies am Boom der Tagespresse um 1900 ablesen. So stieg die Anzahl der Titel zwischen 1891 und 1906 um 37 Prozent. Im Kaiserreich zeigte sich zudem besonders die enge Verbindung von Politik und Presse. Zentral war eine meinungsbildende Ausrichtung der Presse, zumal vor und während des Ersten Weltkriegs. Überwiegend erfüllten die Presseerzeugnisse ihre erwünschte Funktion als „Kriegstreiber“, waren also propagandistisch in Dienst genommen. Der Rückgang ab 1914 erklärt sich vor allem aus der Papierknappheit der Kriegsjahre. Bis 1917 ging die Zahl der Titel so um 21 Prozent zurück. ► Abb 1

Das Pressewesen der Weimarer Republik profitierte einerseits von der Pressefreiheit und litt andererseits ab 1931 unter der Verbotspraxis mittels Notverordnungen. Die Tagespresse zeigte sich vielfältig, stark politisiert und damit fragmentiert. Die Zersplitterung in den Marktanteilen zeigte sich auch im Vorhandensein unzähliger lokaler Zeitungen.
Die Entwicklung zwischen 1933 und 1945 stand unter anderen politischen Vorzeichen. Die Pressepolitik hatte drei klare Ziele: Ausschaltung politischer Gegner, Gleichschaltung und Meinungslenkung. Der Zweite Weltkrieg stellte eine erhebliche Zäsur dar. Knappheit in Papier und Druckkapazitäten, Informationsbedürfnisse der Leser und Propagandaabsichten der Erzeuger bildeten ein unvereinbares qualitatives und quantitatives Dreieck, in dem die Zeitungsproduktion bis 1942 /43 stark einbrach.
Nach dem Ende des Krieges unterstand das Pressewesen zunächst den Alliierten, die unterschiedliche Wege beschritten. Allen gemeinsam war die anfängliche Papierknappheit. Erste alliierte Zeitungen erschienen trotzdem bereits im späten Kriegsverlauf, zunächst als Heeresgruppenzeitungen. Sie sollten bei der Re-Education helfen.
In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) erschienen noch im Mai 1945 die „Tägliche Rundschau“ und die „Berliner Zeitung“ als Organe des Kommandos der Roten Armee, im Juni dann mit der „Deutschen Volkszeitung“ das erste Lizenzblatt. Weitere folgten, auch hier nach Lizenzvergabe. Diese Erzeugnisse wurden stark zensiert, denn Meinungsfreiheit war kaum erwünscht. Nach und nach entstanden Parteien, wodurch Parteizeitungen zugelassen wurden. Selbst nach Gründung der DDR 1949 nahm die Sowjetunion anfänglich starken Einfluss auf das Pressewesen, eine „Presse neuen Typs“ sollte geschaffen werden. 1952 wurde das „Neue Deutschland“ als zentrales Organ der Tagespresse gegründet. Danach waren zentrale Lenkung, defizitäre ökonomische Bilanz und hohe Zeitungsdichte bei überschaubarer Titelzahl wesentliche Merkmale. Das heißt: Während die Auflagen stiegen, stagnierte die Zahl der Titel. Zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften unterlagen einem die Auflage beeinflussenden Sperrvermerk, hier wurden neue Abonnements nur bei Abbestellungen vergeben.
In den westlichen Besatzungszonen galt für die Neu- und Wiedergründungen eine Lizenzpraxis, die demokratische Grundsätze schützen sollte. In den 1950er Jahren schien man zu den Traditionen der Weimarer Republik zurückzukehren. Unter Länderweisung entstanden vornehmlich Lokalzeitungen, die sich aber meist als Kopf- und Nebenausgaben weniger Hauptausgaben erwiesen. Diese machten bereits 1947 nur 21 Prozent der Gesamtausgabenzahl aus. Eine Zäsur stellte die Gründung der Bild-Zeitung 1952 dar, die rasch zur größten deutschen Zeitung aufstieg. Ihr zunehmender Charakter als „Meinungsmacherin der Nation“ war prägend. Die 1960er und 1970er Jahre waren stark durch eine ökonomische und publizistische Konzentration der Presse gekennzeichnet. Während ab 1966 die Zahl der Hauptausgaben sank, stagnierte die Ausgabenzahl insgesamt. In den 1970er Jahren kam eine allgemeine Stagnation bzw. krisenhafte Wirtschaftsentwicklung mit sinkender Nachfrage hinzu. Zudem war bereits Ende der 1950er Jahre die Medienkonkurrenz durch das Fernsehen spürbar geworden, schon ab 1958 war nur noch ein leichter Anstieg bei der Zahl der Hauptausgaben zu verzeichnen gewesen.
Nach der Wiedervereinigung wurde die DDR-Presse zumeist von bundesdeutschen Verlagen übernommen, Meinungs- und Pressefreiheit rasch durchgesetzt. Seit der Jahrtausendwende lassen sich folgende Trends erkennen: Je nach Presseerzeugnis sind stärkere oder weniger starke Rückgänge feststellbar. So sank die Verkaufsauflage von 2001 bis 2013 um 27 Prozent. Immer mehr Leser informieren sich im Internet. Teilweise geschieht dies zu Lasten des Pressewesens über kostenfreie Informationsportale, teilweise offerieren die Verlage erfolgreich Online-Angebote.

Buchmarkt: Vom Buch zum E-Book

In vielen Aspekten entsprechen Entwicklungen der Buchproduktion den Befunden der Pressegeschichte. ► Tab 2

Das 19. Jahrhundert war durch eine Demokratisierung der Lesekultur geprägt, die von einer breiten Alphabetisierungswelle getragen wurde. Die Buchproduktion wurde differenzierter und quantitativ reicher. Von 1851 bis 1900 verdreifachte sich die gesamte Titelproduktion. Technische Neuerungen machten Bücher preiswerter und alltäglicher. Die Zensur garantierte allerdings mit Ausnahme der Revolutionsjahre eine Kontrolle der Produktion. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war durch zahlreiche Verlagsgründungen gekennzeichnet, eine Konzentration setzte erst in der Weimarer Republik ein. Neben Versuchen zur Zusammenarbeit der Buchhandelsakteure – vor allem im Börsenverein der Deutschen Buchhändler / des Deutschen Buchhandels – gab es viele partikularistische Bestrebungen. In der schweren Absatzkrise der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelten sich unterschiedliche Strategien der Verlage – das kulturell hochwertige Buch in geringerer Auflage stand neben dem Massenbuch.
Der Erste Weltkrieg markierte eine Zäsur, da Kriegswirtschaft und Papiermangel zum Sturz der Produktionszahlen führten. Auch die Weimarer Republik verzeichnete eine Bücherkrise mit Einbrüchen bei der Titelproduktion 1924 und 1931, auf die mit Professionalisierung durch den Zwischenbuchhandel und mit massiver Werbung reagiert wurde. ► Abb 2

Der Nationalsozialismus bewegte sich in der Gleichschaltung des Buchhandels, die in der Bücherverbrennung einen tragischen Höhepunkt fand, zwischen starken Beschränkungen durch Zensur und aktiver Förderung der Produktion durch propagandistisch motivierte Publikationen. 1933 stellte eine Zäsur dar, als die Zahl der veröffentlichten Titel um ein Drittel oder 10 000 unter dem Wert von 1932 lag. Zahlreiche Schriftsteller gingen ins Exil, sie publizierten fortan häufig in Exilverlagen. In der Kriegszeit führten Papiermangel und Zerstörungen dazu, dass die Buchproduktion bis 1945 fast zum Erliegen kam.
Nach dem Krieg sorgten die Alliierten für eine strenge Kontrolle, Verlage wurden nur über ein Lizenzsystem wieder genehmigt. Der Buchmarkt entwickelte sich bis zum Anfang der 1980er Jahre positiv: Der Umsatz verfünffachte sich von 1960 bis 1984.
In der SBZ wurden schon im Juli 1945 drei politisch erwünschte Verlage gegründet. Hier und später in der DDR unterlag die Buchproduktion einer starken, wenn auch nicht gleichmäßigen Zensur. Das staatlich gelenkte Buchwesen verstand sich in seiner Vertriebsform als Volksbuchhandel mit stark subventionierten Preisen, der zu hohen Produktionszahlen nach ideologischen Vorgaben führte. Einschnitte zeigten die wechselnden Restriktionen des Systems. Dies galt vor allem für die Folgen des 11. Plenums des ZK der SED im Dezember 1965 („Kahlschlagplenum“), als die Titelproduktion von noch 7 400 1966 auf 5 300 im Folgejahr sank. ► Abb 2
Nach der Wiedervereinigung blieb das Buch ein zentrales Medium, auch wenn schon bald der Strukturwandel zu spüren war. Der Buchmarkt differenzierte sich, Titelimporte nahmen zu. Zunehmend entsteht zudem durch andere Formate eine Medienkonkurrenz. Dies drückt sich zum Beispiel im zunehmenden Anteil elektronischer Publikationen, beispielsweise E-Books, aus. Die Leitfunktion des Printmediums Buch scheint in dieser Hinsicht gebrochen, die Umsatzzahlen belegen aber gleichwohl eine – kontinuierliche, wenngleich langsame – Steigerung der Umsätze.

Bibliotheken: Von der Volksbücherei zum multimedialen Informationsdienst

Wie auch in anderen Kulturbereichen setzte auch hier ab dem 19. Jahrhundert eine Popularisierung, aber auch Ausdifferenzierung (etwa in der Lese- oder Bücherhallenbewegung) ein. Dieses sogenannte Volksbüchereiwesen erlebte nämlich zur Jahrhundertwende einen inhaltlich scharfen Richtungsstreit, in dem es um das vorrangige Verständnis der Bibliothek als Dienstleister oder Erzieher ging. Nichtsdestoweniger nutzten insgesamt immer mehr Menschen Bibliotheken als Informationsgeber, zwischen 1901 und 1911 beispielsweise verdoppelte sich die Zahl der Einrichtungen in deutschen Städten – auf noch immer insgesamt niedrigem Versorgungsniveau. Um das gesamte Schrifttum zu sammeln, entstand in Deutschland – allerdings erst 1912 – die Deutsche Bücherei in Leipzig als Nationalbibliothek. Neben dieser gab es immer mehr Bibliotheken in kommunaler und kirchlicher Trägerschaft. ► Abb 3

In der Weimarer Republik prägte zunächst der Blick der Öffentlichkeit auf das als vorbildhaft empfundene englische und amerikanische Public-Library-System die Wahrnehmung. Dort waren mediale und personelle Ausstattung, Öffnungszeiten sowie gesellschaftliche Relevanz der Bibliotheken deutlich besser als in Deutschland. Indes wichen Wunsch und Realität stark voneinander ab. Mit der Inflationskrise 1923 sowie der Wirtschaftskrise ab 1929 gerieten Bibliotheken zunehmend unter wirtschaftlichen Druck. Zwar stieg die Nachfrage enorm, doch die Zahl der Neuanschaffungen sank. ►Tab 3

Die Nationalsozialisten griffen 1933 umgehend auf das öffentliche Bibliothekswesen zu, auch von den rassistisch oder politisch motivierten personellen Säuberungen blieben Bibliotheken nicht verschont. Dass Büchern ein wesentliches Gewicht in der Erziehung des Volkes zugedacht wurde, zeigte sich bedrückend am 10. Mai 1933, dem Tag der Bücherverbrennung. Im gleichgeschalteten Bibliothekswesen wurde nur systemkonforme Literatur akzeptiert. Der Zweite Weltkrieg führte zu einer Zerstörung zahlreicher öffentlicher Bibliotheken und zum Verlust ganzer Bestände.
Die DDR pflegte bereits seit ihrer Gründung offensiv ihr selbstgewähltes Image als „Leseland“. Neu- und Wiederaufbau von Bibliotheken prägten die Entwicklung, manche Bibliotheken wurden durch die staatliche Teilung 1949 an mehreren Standorten wieder eröffnet. In der DDR fand eine neue Ideologisierung statt, gefördert wurde besonders der Ausbau jener Bestände, deren Autoren sich klar zum Sozialismus bekannten. 1950 gründete sich ein Zentralinstitut für Bibliothekswesen, das eine Kooperation der Einrichtungen befördern sollte. Die DDR blieb bis zu ihrem Ende jenes „Leseland“, sicher auch aus Mangel an anderen Freizeitaktivitäten und im Versuch, sich die Welt ins Haus zu holen.3 ► Abb 3
In der Bundesrepublik begann man nach dem Krieg mit dem Neu- und Wiederaufbau von Bibliotheken sowie der Entnazifizierung und Internationalisierung der Buchbestände. In der stark föderal geprägten Bibliothekslandschaft achteten die Betreiber trotzdem auf Kooperationen, zu diesem Zweck gründete sich 1978 das Deutsche Bibliotheksinstitut. Es setzte zudem eine fortschreitende Spezialisierung ein, entweder innerhalb der Bestände oder aber durch die Errichtung von Spezialbibliotheken für unterschiedliche Nutzergruppen und -interessen.
Gegenwärtig ist das Bibliothekswesen durch starke Veränderungen geprägt. Die mit dem Buch konkurrierenden Mediensysteme machen eine Öffnung der Bibliotheken nötig. Von 1990 bis 2010 ging der Medienbestand um 20 Prozent zurück. Es sind neue Nutzungszugänge entstanden, die durch einen bibliotheksübergreifenden, oft digitalen Ansatz (Zugriff auf Datenbanken u.ä.) entstehen und nicht mehr zwangsweise die physische Anschaffung bestimmter Medien durch Bibliotheken erfordern. Zudem setzen immer mehr Bibliotheken darauf, sich zu kulturellen Zentren weiterzuentwickeln, die auch nichtbibliothekarische Veranstaltungsangebote offerieren.

Theater: Vom Spiegel der Volksseele zum Musentempel

Das Theater entwickelte sich im 19. Jahrhundert vom Hoftheater zum Geschäftstheater. Besonders augenfällig war wegen der Zersplitterung des deutschen Territoriums die hohe Theaterdichte. Ab 1869 wurden Theater als Gewerbe verstanden, in der Folge wurden mehr und mehr Konzessionen vergeben. Die Neugründungen waren teilweise privat finanziert, noch immer aber machten subventionierte kommunale oder staatliche Theater einen ebenso gewichtigen Teil aus. Das Theater war gleichwohl mehr als nur Unterhaltungsmedium, sondern behielt – je nach politischem und gesellschaftlichem Willen im Wandel der Jahrzehnte – seinen Charakter als anregende Störung, als Ort der nationalen Bildung, als Volksbühne. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert setzte ein zunächst ungebrochenes Bewusstsein von Modernität und Andersartigkeit ein, das zu einem stürmischen Wechsel der Stile und zur Erschließung neuer Besuchergruppen führte.
In der Weimarer Republik wurden Theater zunehmend von der öffentlichen Hand übernommen. Als Theatermetropole galt Berlin. Ab etwa 1930 machte sich die zunehmende Verbreitung der Kinos deutlich bemerkbar, wodurch zwischen Ende der 1920er und Mitte der 1930er Jahre ein großes Theatersterben einsetzte, das sich auch in der abnehmenden Zahl der Sitzplätze zeigte. ► Tab 3
Im Nationalsozialismus stagnierte die Entwicklung zunächst und kehrte sich sogar um, da das Theater als Ort der Erziehung sowohl staatlich geschützt als auch gleichgeschaltet und propagandistischen Erfordernissen unterworfen wurde. Die Subventionen stiegen, zudem wurden große Kartenkontingente fest im Rahmen von organisations- und parteigebundenen Massenveranstaltungen vergeben. Die umfangreiche Zensur veränderte den Spielplan. Operetten und Lustspiele sollten zudem vor allem ab Kriegsbeginn Ablenkung verschaffen. Erst im September 1944 wurde der Spielbetrieb der in der Reichstheaterkammer organisierten Häuser eingestellt.
In der SBZ und später in der DDR galt das vorrangige Interesse der Inszenierung von Stücken, die den Aufbau des Sozialismus stützten. Zu diesem Zweck wurden die wieder aufgebauten oder neu geschaffenen Bühnen stark subventioniert. Die Preise fielen und breite Bevölkerungsschichten wandten sich dem Theater zu, das aber durch die Medienkonkurrenz spürbare Einschnitte hinnehmen musste. Nach dem Höhepunkt mit 17,9 Millionen Theaterbesucherinnen und -besuchern im Jahr 1956 ging die Besucherzahl kontinuierlich zurück. Teilweise etablierte das Theater eine subtile Kritikkultur, die nicht immer hingenommen wurde und zum Exodus zahlreicher Theaterschaffender führte. Die für die DDR propagierte „Bühnenrepublik“ diente der Bildung sozialistischer Persönlichkeiten, gleiches sollten Laienspielgruppen und Arbeiterfestspiele erreichen. Der Erfolg dieser Bemühungen war begrenzt. ► Tab 3, Abb 4

In den westlichen Besatzungszonen galt es in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Theater im Sinne einer Re-Education auch baulich rasch wieder zu errichten. Hinzu kam, dass es die Menschen nach Kultur hungerte; der an traditionellen, klassischen Stücken ausgerichtete Publikumsgeschmack wollte bedient werden. Die Besucherzahlen stiegen bis 1958, blieben fast ein Jahrzehnt etwa konstant, danach begann der langsame und in den 1980er Jahren raschere Abstieg.
Dieser Besucherrückgang setzte sich auch nach der Wiedervereinigung bis in die Gegenwart fort. Demografische Umbrüche und die vorhandene Medienvielfalt haben daran bis heute entscheidenden Anteil. Die eventorientierten Theater, zumeist privat betrieben, allen voran die Musicaltheater sowie die Kinder- und Jugendtheater, verzeichnen in den letzten Jahren hingegen einen Boom.

Kino: Von Palästen, Schachtelkinos und Multiplexen

Es muss ein besonderer Moment gewesen sein, als 1907 in Berlin das erste deutsche Kino eröffnete. Bereits zuvor hatte es Vorführungen „laufender Bilder“ in Varietés und Wanderkinos gegeben. In der Architektur und der Namensgebung spiegelte das Kino anfangs noch die Theaterkultur (Lichtspieltheater). Doch bald zeigte sich der neue Charakter: Rasch reagierte das Kino auf Zeitgeschmack sowie Ideologien und thematisierte Gegenwarts- und Zukunftsvorstellungen. Nicht zuletzt diente es explizit der Zerstreuung, allerdings in „seriöser Ummantelung“. Eine erste Kinogründungswelle erfasste Deutschland noch vor dem Ersten Weltkrieg. Ein Kinobesuch bedeutete dabei anfangs das Ansehen eines Stummfilms, oft mit akustischer Begleitung durch Orchester und Bilderklärer. 1917 wurde die Universum Film AG (Ufa) als erstes großes deutsches Filmunternehmen gegründet. Ein kurzes Kinosterben durch die sogenannte Lustbarkeitssteuer zwischen 1923 und 1925 konnte den Siegeszug des Kinos nur kurz unterbrechen, als die Zahl der Lichtspielhäuser von 4 017 auf 3 428 zurückging. ► Tab 3
In der Weimarer Republik war die Kinokultur bereits etabliert, umso mehr nachdem 1928 der Tonfilm erfunden wurde. Dies führte zur Errichtung von Tonfilmtheatern, die deutlich mehr Sitzplätze hatten. In vielen Großstädten entstanden regelrechte „Kinopaläste“.
Der Boom setzte sich auch nach 1933 fort, bis 1939 stieg die Zahl der Kinos auf 6 673. Allerdings wurde im Nationalsozialismus auch diese Kulturform politisch stark vereinnahmt, personell und inhaltlich gleichgeschaltet. Im Krieg wurden zahlreiche Kinos zerstört, schon wenige Monate nach Kriegsende begannen allerdings Vorführungen in provisorischen Spielstätten.
Die bestehenden Kinos wurden in beiden Teilen Deutschlands bereits ab den späten 1940er, aber vor allem in den 1950er Jahren wieder aufgebaut, Neubauten kamen hinzu. Von 1945 bis 1960 versechsfachte sich Zahl der Kinos. In diese Zeit fiel auch die flächendeckende Einführung des Farbfilms. Mit der neuen Konkurrenz des Fernsehens – Kino für daheim – gingen ab 1959 in der Bundesrepublik die Besucherzahlen zurück. In den 1970er Jahren wurden viele Kinos umgebaut: Große Säle wurden geteilt und so parallel mehrere Filme angeboten. Es entstanden „Schachtelkinos“. ► Abb 5

In der SBZ und späteren DDR gab es bis 1955 Kinos, die allein sowjetische Importe spielten, sowie bis in die 1960er Jahre noch private Kinos. Danach waren alle Kinos den 1953 gegründeten Volkseigenen Kreislichtspielbetrieben unterstellt. Beliefert wurden die Kinos durch den Volkseigenen Betrieb Progress. Die Zensur achtete darauf, nur systemkonforme Filme zur Aufführung zuzulassen. Bis 1957 stieg die Zahl der Kinobesuche kontinuierlich, danach sank die Zahl. Ab 1965 wurde die starke Fernsehkonkurrenz entscheidend spürbar. Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er Jahren gelang es durch neue Vorführorte – beispielsweise Sommer-, Zelt-, mobile Dorfkinos und Freilichtbühnen – die Besucherzahlen konstant zu halten.
Ab den 1990er Jahren sorgten im wiedervereinigten Deutschland vor allem technische Neuerungen für einen weiteren Umschwung. „Super Breitwand“, „Dolby Surround“ und „THX Sound“ verlangten nach Großkinos. Insbesondere Multiplexkinos mit einem umfangreichen Freizeit- und Gastronomieangebot verbreiteten sich. Durch diese „Eventisierung“ versuchen die Kinos, die Zuschauerzahlen zu festigen.

Tourismus: Von der Sommerfrische zum touristischen Take-off

Wesentliche Bedingungen für Tourismus sind freie Zeit, verfügbares Einkommen und eine Urlaubsregelung für Berufstätige. All dies war im 19. Jahrhundert nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung gegeben. Reisen galt lange Zeit entweder als privates Vergnügungs- oder als Bildungsunternehmen.
Erholung stand zunächst, wenn überhaupt, unter der Prämisse, die Arbeitskraft wieder herzustellen. Die rasante technische Entwicklung beförderte jedoch den Ortswechsel: Eisenbahn und Dampfschiff konnten Menschen rasch, preiswert und in großer Zahl transportieren. Im Kaiserreich wurde die Sommerfrische für den Adel und wohlhabende bürgerliche Kreise zu einer Selbstverständlichkeit. Es entstanden erste traditionelle Tourismusregionen, besonders in den Alpen und an Nord- und Ostsee. ► Tab 4

Um die Jahrhundertwende setzten sich nach und nach bescheidene Urlaubsregelungen durch. Viele Menschen reisten trotzdem vor allem nur kurz an Wochenenden und Feiertagen, doch insgesamt stieg die Reiseintensität enorm. Der Erste Weltkrieg bremste dann zunächst die touristische Weiterentwicklung.
In der Weimarer Republik entfaltete sich der Tourismus weiter, hin zu einem Massenphänomen. Verkehrstechnisch wurden immer mehr Gegenden erschlossen, ein Großteil der Arbeitnehmer konnte Urlaubsregelungen für sich geltend machen, Gewerkschaften und einige Parteien förderten den sogenannten „Sozialtourismus“ für Arbeiter und Angestellte. Die touristische Entwicklung blieb allerdings stark an konjunkturelle Bedingungen gebunden. So lag etwa die Zahl der Gästemeldungen während der Inflation 1923 mit 7,3 Millionen deutlich unter dem Wert von 10,3 Millionen für 1922. ► Tab 5, Abb 6

Im Nationalsozialismus wurde das Reisen politisch instrumentalisiert und reglementiert. Die 1 000-Mark-Sperre gegenüber Österreich zwischen 1933 und 1936 beispielsweise sollte die österreichische Tourismuswirtschaft zugunsten der deutschen schwächen. Dies belegen starke Zuwächse bei den Gästemeldungen in Bad Reichenhall, wo 157 000 Gästen 1933 283 000 Gäste 1937 gegenüberstehen. ► Tab 4
Im Zuge einer propagandistisch gebundenen Sozialpolitik waren Reisen weiterhin ein – sich intensivierendes – Massenphänomen. Die Zahl der Übernachtungen in Deutschland stieg von 49,2 Millionen 1932 auf 114,8 Millionen 1938. Dazu trugen auch NS-Organisationen bei, insbesondere „Kraft durch Freude“ (KdF), die Arbeitern und Angestellten In- und Auslandsreisen zu günstigen Preisen ermöglichten. Kriegsbedingt sanken touristische(s) Angebot und Nachfrage stark ab. ► Tab 5
Bereits unmittelbar nach dem Krieg setzte sich der Aufschwung des Tourismus fort. Er gewann sogar noch an Dynamik, im Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre sprach man von einer Reisewelle oder einem „touristischen Take-off“. Dies belegt der Zuwachs bei der Bettenzahl von 1952 bis 1966 um 175 Prozent. Mit der raschen Motorisierung stieg die Zahl der Individualreisen stark an. Aber auch das Interesse an und die Kaufkraft für organisierte Reisen nahmen zu. Es entfaltete sich der Prototyp des Pauschaltourismus: standardisiert, in Serie und massenhaft vertrieben. Neben die inländischen Traditionsorte traten zunehmend nachgefragte Fernziele. Die Krisenerscheinungen der 1970er Jahre konnten den kontinuierlichen Anstieg – vor allem im Auslandsreiseverkehr – nur kurz bremsen. Die Reiseintensität und damit auch die Übernachtungszahlen stiegen weiter, allerdings ab den 1980er Jahren nicht mehr vorrangig im Inland.
Tourismus in der DDR fand unter gänzlich anderen Vorzeichen statt. Während im Inland durch den vorherrschenden, staatlich organisierten und hoch subventionierten Sozialtourismus die Reiseintensität beträchtlich stieg, waren DDR-Bürgern die meisten ausländischen Ziele versperrt. Trotzdem waren wesentliche Entwicklungen des Tourismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in der DDR spürbar, so der Wiederaufbau nach dem Krieg und der touristische Takeoff in den 1950er und 1960er Jahren. In der Tabelle nicht sichtbar ist die nachweisbare, allerdings statistisch nicht verlässlich erfasste Internationalisierung der Reiseverkehrsströme, vor allem die zunehmenden Auslandsreisen von DDR-Bürgern, zumeist in die sogenannten „sozialistischen Bruderländer“. ► Tab 6

Im vereinigten Deutschland ist vor allem in den letzten Jahren eine starke Ausdifferenzierung zu beobachten: Bedingt durch mehrere Faktoren, besonders die Globalisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, verändert sich der Tourismus, durch zunehmende Individualisierung expandiert das Spektrum des Angebots. Innerhalb Deutschlands gibt es nach wie vor besonders beliebte Ziele, nicht jeder Traditionsort aber konnte die touristische Nachfrage – sichtbar an Gästemeldungen und Übernachtungen – festigen oder ausbauen. Im aufnehmenden Tourismus ist hingegen offensichtlich, dass Deutschland ein beliebtes Reiseziel ist, das seine Attraktivität in den letzten Jahren zudem deutlich stärken konnte. Die Zahlen der Übernachtungen und Meldungen von Gästen aus dem Ausland verdoppelten sich von 1996 bis 2011 nahezu. ► Tab 4, Tab 5

Sport

Die ersten Turnvereine und Turnverbände – wohl rund 300 im deutschsprachigen Raum – im modernen Sinn (mit einer Satzung) griffen als bürgerlich-politische Gründungen ab den 1840er Jahren in die nationalstaatlich und demokratisch orientierte Revolution von 1848 ein. Nach deren Niederschlagung wurden sie von den Regierungen der kleinräumigen Einzelstaaten zumeist mit dem Mittel des Versammlungs- und Vereinsrechts aufgelöst oder verboten, etliche Turner emigrierten nach Amerika.4
Durch die neue nationale Welle ab 1859 konnten sich wieder Turnvereine bilden; 1868 gründete sich ihr Dachverband, die Deutsche Turnerschaft (DT). Durch nationalpolitische und wirtschaftliche Kriege (1864, 1866, 1870 / 71) sanken die Mitgliederzahlen wieder. Die militärische (Wehrturnen) und politische (Nationalismus) Unterstützung des Deutschen Kaiserreichs – wie auch die Aufnahme von Frauen ab den 1890er Jahren – ließ die Mitgliederentwicklung ab den 1870er Jahren bis 1914 aber wieder rasch ansteigen. ► Tab 7, Abb 7

Nach Aufhebung der Sozialistengesetze gründete sich 1893 der Arbeiter-Turnerbund (ATB) – ab 1919: Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) –, in dessen Vereinen, im Gegensatz zur bürgerlichen DT, Frauen und Jugendliche ab 14 Jahren volle Mitgliedsrechte besaßen. Jedoch stufte die Obrigkeit etlicher Länder ATB-Vereine als „politisch“ ein, was das Verbot der Mitgliedschaft Minderjähriger nach sich zog und die Vereine des ATB bis 1914 schwächte.
Ab etwa 1880 bildeten sich – ausgelöst durch den aus England importierten Sport – mit der DT konkurrierende Sportvereine und Sportfachverbände; mit Höchstleistung, Rekordstreben, Spezialisierung, Spannung und Unterhaltung bildeten sie die neuen Werte der Moderne ab (Olympische Spiele ab 1896). 1883 gründete sich (als erster) der Deutsche Ruderverband, 1898 der Deutsche Leichtathletikverband und 1900 der Deutsche Fußballbund.
Durch die Verluste im Ersten Weltkrieg sank die Zahl der männlichen Vereinsmitglieder jedoch rapide, während das Frauenturnen einen Aufschwung erlebte. Der Sport insgesamt aber wurde – auch durch den militärischen Nutzen im Krieg und sein Zerstreuungspotenzial an der Heimatfront – insgesamt bei Staat und Bevölkerung populärer. ► Tab 8

Sport und Turnen wurden nach 1918 zum Massenphänomen: Veränderung im Vereinsrecht (Vollmitgliedschaft für Frauen und Kinder), 48-Stunden-Woche (mehr Freizeit), neue Presse (Sport im Rundfunk, Sportillustrierte), Massenunterhaltung (Sechs-Tage-Rennen, Fußballspiele, Profiboxkämpfe) und eine neue Körperästhetik läuteten den rapiden Aufschwung ein. Milieuorientierte Sportvereine (Arbeiter-, Konfessions-, Betriebs-, Militärsport) trugen zur Zersplitterung bei. Die Wirtschaftskrisen (1923, 1929 bis 1931) ließen die – auch durch Mehrfachmitgliedschaften und Einbezug sportfremder Vereine (zum Beispiel Wandervereine) hohen – Zahlen zwischenzeitlich zum Teil stark sinken. ► Abb 8

Ab 1933 wurden die Vereine und Verbände im Deutschen (ab 1938 Nationalsozialistischen) Reichsbund für Leibesübungen (DRL /NSRL) gleichgeschaltet, jüdische Mitglieder ausgeschlossen und die Arbeitersportvereine zerschlagen. Die Sportarten wurden Fachämtern zugeordnet und nur noch Beitragszahler und Einzelmitgliedschaften gezählt. Konkurrierend und zum Teil verpflichtend wurde Sport in der NSDAP, in der Deutschen Arbeitsfront (DAF), in SA und SS und in der Hitlerjugend (HJ) praktiziert. Dadurch sanken die Vereinsmitgliedszahlen, ab 1939 auch aufgrund des Krieges, wobei der Frauensport auch jetzt einen Aufschwung erlebte. Durch Gebietsannexionen (Österreich, Sudetenland) stiegen die Zahlen teilweise wieder an. 1938 / 39 wurden die Vereine zu abhängigen Parteizellen der NSDAP und verloren ihre Unabhängigkeit.
Als NSDAP-Zellen wurden die Vereine von den Alliierten 1945 zunächst verboten und die Funktionsträger entnazifiziert. Die Wiedergründung verlief daher zunächst nur lokal und regional, im Westen erst über Vereine, dann über Stadt- und Kreissportbünde, Landesfachverbände und Landessportbünde, in der SBZ/DDR lokal uneinheitlich über Kommunalsport, SED-Kulturausschüsse, Gewerkschaft und endgültig, aber verzögert, über Betriebssportgemeinschaften (BSG), überregional über FDJ und ab 1952 über das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport (StaKo). Der Deutsche Sportbund (DSB) der Bundesrepublik – mit Vereinen, Fachverbänden und Landessportbünden – wurde 1950, der staatlich gelenkte Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der DDR – mit BSGen, Kreisen und Bezirken – sogar erst 1957 gegründet. So fehlen frühe Gesamtzahlen. Dabei spiegeln die Zahlen im Westen bzw. ab 1990 – anders als vor 1933 – nur die im Dachverband DSB (seit 2006: Deutscher Olympischer Sportbund, DOSB) organisierten Vereine wider, unterscheiden jedoch keine Einzel- von Mehrfachmitgliedschaften.
Fehlende und mangelhafte Infrastruktur im Sport verzögerte in den 1950er Jahren die Entwicklung zunächst. Staatliche Förderprogramme (Bundesrepublik und DDR) und Acht-Stunden-Tag, Gesundheits- und Vorsorgemotive, Olympische Spiele, neue Sportmedien und Sport als Lifestyle ließen die Zahlen danach rapide steigen. Nach 1990 kamen Kinder-, Frauen-, Senioren-, Migrations- und Inklusionsförderung, eine neue Körperlichkeit und die aktuelle Fußballbegeisterung als Einflüsse hinzu. Die dennoch insgesamt stagnierenden Zahlen verweisen auf den konkurrierenden kommerziellen Sport und den Individualsport sowie auf Minderungsaspekte, wie zum Beispiel Ganztagsschulen, die der Vereinsmitgliedschaft entgegenstehen.

Datengrundlage

Allein die Bezeichnungen „Kultur“ und „Tourismus“ sind, zumal in historischer Dimension, gewagt. Was beide seien und was rückblickend Gegenstände einer Kultur- und Tourismusgeschichtsschreibung wären, wird höchst unterschiedlich gesehen. Insbesondere das Verständnis von „Kulturgeschichte“ unterliegt einem starken Wandel. Während klassisch – und auch in diesem Artikel – darunter bestimmte Themenfelder verstanden
wurden, ist die neue Kulturgeschichte eine Betrachtung jeglicher Gegenstandsbereiche unter einer neuen Perspektive.
Die Zusammenstellung langer statistischer Reihen für ausgewählte Daten zur Kultur- und Tourismusgeschichte gestaltet sich schwierig. Zu kaum einem Teilbereich existieren durchgehende Daten. Hinzu kommt, dass wechselnde politische und gesellschaftliche Bedingungen sowie Interessen zu unterschiedlichen Konnotationen einzelner kultureller Bereiche und Begriffe führten. Deshalb wurde unter einheitlich benannten Datensätzen nicht zwangsläufig Gleiches verstanden.
Eine sinnvolle Beschreibung kulturrelevanter langer Datenreihen ist mit wenigen Ausnahmen erst ab der Gründung des Kaiserreiches 1871 überhaupt und trotzdem häufig nur lückenhaft möglich. Kulturelle Aspekte tauchen – bis heute – oft in der amtlichen Statistik gar nicht auf, sondern werden von einer Vielzahl von Organisationen, Institutionen, Verbänden und Vereinen zusammengestellt. Gleichwohl wurden mit der im 19. Jahrhundert flächendeckend einsetzenden amtlichen Statistik zunehmend Daten erhoben, die deutlich machen, welche Auswirkungen die politischen und gesellschaftlichen Umstände im schwer fassbaren Bereich von Freizeit und privatem Interesse hatten.
Eine zusammenhängende statistische Übersicht über sporthistorische Organisations- und Mitgliedszahlen von der Entstehungszeit der ersten Turnvereine ab ca. 1840 an bis zur heutigen weitgespannten Turn- und Sportlandschaft in Deutschland gab es bisher nicht, weder in der Forschungsliteratur noch in den Quellen. Die hier dargestellten Zeitreihen stützen sich daher auf keinen zusammenhängenden Quellenfundus, sondern sind aus unterschiedlichen historischen Quellen- und Literaturbeständen zusammengesetzt, die von amtlichen Statistiken bis zu statistischen Angaben aus der Eigenliteratur der Turn- und Sportorganisationen reichen; gerade letztere bilden in der Regel nur je eine bestimmte Sportorganisation innerhalb einer kürzeren Zeitspanne ab. Die Angaben sind deshalb lückenhaft und – hinsichtlich der Eigenliteratur – weder überprüfbar noch immer unbedingt verlässlich. Eine weiterführende Forschung, die systematisch die historischen Quellen und die Literatur recherchiert und die Zeit- und Datenlücken füllt, ist daher ein dringendes Desiderat.

Zum Weiterlesen empfohlen

  • Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914, München 2009.
  • Manfred Brauneck: Europas Theater. 2500 Jahre Geschichte – eine Einführung, Reinbek, 2012.
  • Konrad Dussel: Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004.
  • Ulrike Häußer / Marcus Merkel (Hrsg.): Vergnügen in der DDR, Berlin 2009.
  • Jost Hermand: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus, innere Emigration, Exil, Köln 2010.
  • Eberhard Kolb / Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, München 2013, besonders S. 95ff sowie S. 212ff.
  • Michael Krüger: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, 3 Teile, 2. neu bearbeitete Aufl., Schorndorf 2005.
  • Michael Krüger / Hans Langenfeld (Hrsg.): Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf 2010.
  • Torsten Lorenz: Das Kino in seiner geschichtlichen Entwicklung, in:
  • Joachim-Felix Leonhardt (Hrsg.): Medienwissenschaft (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 15.2), Berlin / New York 2001, S. 1084 – 1091.
  • Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
  • Georg Ruppelt: Buch- und Bibliotheksgeschichte(n), Hildesheim 2007.
  • Axel Schildt / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009.
  • Hasso Spode: Wie die Deutschen Reiseweltmeister wurden. Einführung in die Tourismusgeschichte, Berlin 2014.
  • Horst Ueberhorst (Hrsg.): Geschichte der Leibesübungen, Berlin West, Teile 3.1 und 3.2, 1980 / 1982.
  • Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 2011.
  • Heike Wolter: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt a. M. 2009.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

Anmerkungen

  1. Soweit nicht anders belegt wurde in der Recherche die „Zum Weiterlesen“ angegebene Literatur als Grundlage verwendet.
  2. Axel Schildt/ Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 29.
  3. Zur Illustration lt. eigenen Berechnungen aus Entleihungen/ Bevölkerungszahl gemäß Deutscher Bibliotheksstatistik (Bundesrepublik) und Statistischen Jahrbüchern der DDR und BRD für 1988: 5,7 Entleihungen / Bürger in der DDR vs. 2,8 Entleihungen/ Bürger in der Bundesrepublik.
  4. Exakte Zahlen gibt es bislang nicht; vgl. immer noch Hannes Neumann: Die deutsche Turnbewegung in der Revolution von 1848/49 und in der amerikanischen Emigration, Stuttgart 1968.