Die DDR-Statistik: Probleme und Besonderheiten

André Steiner

Für eine Zusammenstellung langfristiger Zeitreihen zur deutschen Geschichte von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts wirft die Statistik der DDR spezielle Probleme auf. Diese resultieren zum einen aus dem Charakter des ostdeutschen Staates als Diktatur, in der die Ergebnisse der Statistik in besonderem Maße zur politischen Legitimation eingesetzt wurden. Dergleichen ist zwar auch unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie üblich, aber in einer Diktatur stehen andere und mehr Möglichkeiten zur Verfügung, die statistischen Angaben in die politisch erwünschte Richtung zu manipulieren. Insofern treten ähnliche Probleme wie bei der Nutzung der Statistik für die Zeit des Nationalsozialismus auf. Zum anderen sind grundlegende Schwierigkeiten bei der Verwendung der DDR-Statistik darauf zurückzuführen, dass dort – anders als im Nationalsozialismus – eine zentralistische, direktive Planwirtschaft etabliert wurde, die mit dem Anspruch antrat, eine Alternative zur Marktwirtschaft zu bilden. Anders als in letzterer dient die Statistik in der Planwirtschaft mehr der Aufgabe, Informationen für die angestrebte vorausschauende Lenkung, aber auch die Kontrolle und Bewertung der Leistungen der nachgeordneten Struktureinheiten zu liefern. Daraus resultierte wiederum ein Interesse aller beteiligten Institutionen, die weitergegebenen Informationen entsprechend ihrer jeweiligen Interessen zu „gestalten“. Darüber hinaus beschränkte sich der Lenkungsanspruch der herrschenden Partei SED nicht auf die Wirtschaft, sondern bezog sich auf die gesamte Gesellschaft, sodass dieses „Gestaltungsproblem“ überall auftrat. Dieser Hintergrund hat entsprechende Konsequenzen für die Aussagekraft der in der DDR aufgestellten Statistiken.

Strukturen der Informationsgewinnung und Qualität der Zahlen

Qualität und Validität von statistischen Angaben können nur bewertet werden, wenn die Subjekte, der Zweck und der Kontext der jeweiligen Informationsgewinnung bekannt sind. Die Akteure der Datenerfassung waren aber zugleich auch deren Objekte. In der DDR versuchte die SED-Spitze, die Wirtschaft ebenso wie andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit Planungsabläufen und damit auch Informationsströmen von den zentralen Instanzen bis zu den unteren Einheiten über eine Hierarchie zu lenken. Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik war als dem Ministerrat nachgeordnete Querschnittsinstanz für die Organisation, Durchführung und Kontrolle des Systems der Rechnungsführung und Statistik verantwortlich. Ihr hatten die nachgeordneten Instanzen im Rahmen der vorgegebenen Pflichten zu berichten. Zugleich mussten sie aber bei ihren übergeordneten Fachinstanzen Bericht erstatten. Alle diese Berichte standen letztlich dem Ministerrat und der SED-Spitze zur Verfügung. Die verschiedenen Formen der Berichterstattung sollten inhaltlich übereinstimmen. Praktisch war dies jedoch nicht immer der Fall, schon weil die den Erfassungen zugrunde liegenden Definitionen und Abgrenzungen nicht immer identisch waren. Dieser Umstand bot den nachgeordneten Einheiten wiederum Spielräume, die geforderten Angaben entsprechend ihren Interessen günstiger darzustellen.
Da die auf den verschiedenen Leitungsebenen gewonnenen Informationen nicht nur die Lenkung ermöglichen, sondern auch die Kontrolle der Entwicklungsprozesse und des Verhaltens der Akteure gewährleisten sollten, waren besonders die oberen (teilweise anders als die unteren) Ebenen daran interessiert, eine möglichst realitätsnahe Abbildung der gesellschaftlichen Prozesse und Gegebenheiten zu erhalten. In dem zur Informationsgewinnung genutzten bürokratisch administrativen und hierarchisch angeordneten System unterschieden sich naturgemäß die Interessen der über- und nachgeordneten Ebenen. Die untersten Instanzen verfügten innerhalb bestimmter Grenzen über vollständige (oder wenigstens doch die umfassendsten) Informationen. Da die untersten Instanzen aber wiederum in ihren Leistungen anhand der abgeforderten Informationen beurteilt bzw. belohnt wurden, hatten sie ein Interesse an entsprechenden Manipulationen.
Um diesen zu begegnen, erließ die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik strenge Vorschriften für die einheitliche Abrechnung und kontrollierte deren Einhaltung. Mit Querrechnungen wurde zudem die Plausibilität der Angaben der Betriebe und der daraus resultierenden Aggregationen auf den folgenden Hierarchieebenen überprüft. Damit blieben die Möglichkeiten zur Manipulation seitens der unteren Instanzen auf das Maß begrenzt, von dem man dort glauben konnte, dass es nicht auffiel. Deshalb sind die entsprechenden statistischen Daten nicht vollkommen unrealistisch. Kontrollen konnten diese Abweichungen nicht vollständig ausschließen. Allerdings war die Neigung zum „Schönen“ der statistischen Berichterstattung in allen gesellschaftlichen Bereichen verbreitet. Deshalb kann von einem homogenen systematischen Fehler ausgegangen werden, der für eine Betrachtung und Analyse der Daten innerhalb des Systems vernachlässigt werden kann. Für die Einordnung in übergeordnete Zusammenhänge stellt er allerdings ein gravierendes Problem dar.
Nicht zu unterschätzen ist außerdem die politische Funktion der Statistik: Sie hatte die Erfolge des sich als Alternative zum marktwirtschaftlich-liberalen System des Westens verstehenden Staatssozialismus zu dokumentieren und öffentlich zu propagieren. Dabei führte politische Opportunität dazu, dass Unliebsames, wie zurückbleibende Produktionsentwicklungen, seltener unmittelbar gefälscht als eher geheim gehalten wurde. Ebenso versuchte man, Entwicklungen und Sachverhalte dadurch günstiger darzustellen, indem den Datenabbildungen von internationalen Normen abweichende Definitionen statistischer Tatbestände zugrunde gelegt und damit die (veröffentlichten) Angaben indirekt verfälscht wurden.

Grundlegende methodische Probleme

Diese Änderungen an international üblichen Definitionen der zu erfassenden Gegebenheiten erweisen sich für das Erstellen von Langzeitreihen als ein Problem, da eine Neuberechnung auf einheitlicher methodischer Grundlage aufgrund des damit verbundenen großen Aufwandes nur in Einzelfällen möglich ist. Darüber hinaus lagen der DDR-Statistik teils Konzepte zugrunde, die entweder aus der Sowjetunion übernommen worden waren oder auf der Theorie von Karl Marx beruhen sollten. Am deutlichsten wird das in der Wirtschaftsberichterstattung, zum Teil hatte es aber auch seine Entsprechung in anderen Bereichen.
Der für die Wirtschaftsstatistik grundsätzlichen Kategorie „Wachstum“ wurde in der deutschen Produktionsstatistik – nach angelsächsischem Vorbild vereinzelt bereits vor dem Zweiten Weltkrieg und danach in der Bundesrepublik fest etabliert – die Konzeption zugrunde gelegt, auf jeder Ebene die zusätzlich erbrachte Wertschöpfung (Arbeitsentgelte zuzüglich der Reinerträge der Betriebe) zu erfassen. In der DDR trat an diese Stelle das sowjetisch inspirierte Bruttoprinzip, in dem auch die Vorleistungen enthalten waren. Damit ging der Wert von Rohstoffen, Halbfertigwaren, Energie und anderem Zubehör, die im Produktionsprozess verbraucht wurden, so oft in die Rechnung mit ein, wie sie bei Verarbeitung und Weitergabe den gesamten Produktionsprozess durchliefen. Einbezogen wurde definitionsgemäß auch die unvollendete Produktion. Das Bruttoprinzip eröffnete den Betrieben eine Fülle von Möglichkeiten, ihr Produktionswachstum und damit ihre Produktivität scheinbar – also ohne real erbrachte Leistungen – in die Höhe zu treiben. Dazu wurde in der Regel vor allem der Vorleistungsanteil ausgedehnt. Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass der im Westen gebräuchliche Unterschied zwischen Brutto und Netto des Sozialprodukts, wonach die Abschreibungen mit erfasst oder ausgeklammert werden, für die DDR wesentlich weiter zu fassen ist. Dort umfasste das Nettoprodukt – vergleichbar mit dem westlichen – die Wertschöpfung; das Bruttoprodukt erfasste aber zusätzlich nicht nur die Abschreibungen, wie nach dem westlichen Konzept, sondern auch die unter Umständen mehrfach gezählten Vorleistungen.
Ein schwerwiegendes Problem stellen im Zusammenhang mit Wertkennziffern die zugrunde liegenden Preise dar. Wegen der weitgehenden Abschaffung von Märkten konnten die Preise in der Regel keine Marktverhältnisse widerspiegeln. Sie waren staatlich festgelegt und sollten sich in Anlehnung an die Marx‘sche Theorie in erster Linie an den Kosten (zuzüglich eines Gewinnzuschlages) orientieren. Für ein Produkt einmal festgelegte Preise blieben in der Regel über dessen Lebensdauer bestehen. Nur wenn das Produkt qualitativ verändert wurde, konnte auch der Preis entsprechend angepasst werden. Erzeugnisqualität und Neuheitsgrad konnten bestenfalls administrativ und schon deshalb nicht durchgängig und nach einheitlichen Prinzipien berücksichtigt werden. Durch die staatlich administrierte Preisanpassung zu verschiedenen Zeitpunkten basierten die Preise im Laufe der Zeit auf verschiedenen Grundlagen und das Preissystem wies eine wachsende Inkonsistenz auf.1 Dabei ist der ebenso politisch festgesetzte Preis der Währung, der Wechselkurs, für die Vergleichbarkeit der Wertkennziffern von besonderer Bedeutung. Einen realistischen Wechselkurs zu bestimmen, bildet die Krux für die Erarbeitung aller Langzeitreihen, in die die DDR eingebunden werden soll.
Zusammengefasst ergeben sich bei der Arbeit mit den DDR-Statistiken die folgenden grundlegenden Probleme: die veränderten und wechselnden Erfassungsdefinitionen und Bezugssysteme, das angewendete Bruttoprinzip, die inkonsistenten Preise als Bewertungsmaßstab und nur beschränkt integrierte qualitative Entwicklungen.

Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs mit der west- und gesamtdeutschen Statistik

Wegen dieser Probleme stößt auch die Einordnung der DDR-Daten in die langfristige statistische Darstellung sowie der synchrone Vergleich mit der Statistik der Bundesrepublik auf kardinale Schwierigkeiten vielfältiger Natur, die nur partiell zu lösen sind. An erster Stelle müssen Statistiken zu Fragestellungen, die als politisch sensibel angesehen wurden, wie Kriminalität oder soziale Entwicklungen, anhand der Erhebungsgrundlagen und Primärdaten besonders kritisch überprüft werden. Dieser Bereich ist im Fall der DDR eher weit als zu eng zu ziehen.
Darüber hinaus beschränken nicht nur die angeführten grundlegenden methodischen Probleme der DDR-Statistik deren Vergleichbarkeit. Produktionswerte und daraus resultierende Größen, wie die Arbeitsproduktivität, sowie die aus ihnen errechneten Indizes und Zuwächse können nicht per se mit Angaben aus westlichen Statistiken in eine Reihe gestellt werden, weil die produzierten Güter im westlichen Fall auf dem Markt durch die Abnehmer als verwendbar und nützlich anerkannt werden mussten, damit sie in die Sozialproduktsrechnung eingehen konnten. Im östlichen Fall bestimmten dagegen die Planungsbehörden, welche Güter die entsprechende Anerkennung erfuhren. Auch im sozialpolitischen Bereich lagen erhebliche Unterschiede in der Systemgestaltung vor. Viele Leistungen wurden in der DDR über den Staatshaushalt finanziert. Das wirft auch für die statistische Darstellung verschiedene Probleme auf. So erhebt sich im Zusammenhang mit der „gesellschaftlichen Konsumtion“, also der kostenlosen Bereitstellung von Dienstleistungen sowie der nicht unerheblichen Subventionierung von Gütern und Leistungen durch den Staat, die Frage, wie diese in einer Aufbringungs-, Verwendungs- und Einkommensrechnung nach westlicher Struktur zugeordnet werden kann.
Alles in allem liegen nur begrenzt Angaben aus der amtlichen Statistik der DDR vor, die sich Langzeitreihen für Deutschland zugrunde legen lassen. Dazu stehen im Wesentlichen drei Quellen zur Verfügung: das Statistische Jahrbuch der DDR in seiner letzten Ausgabe von 1990, eine in den 1990er Jahren vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Sonderreihe zur DDR und die Primärunterlagen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR, die im Bundesarchiv aufbewahrt werden.
In der letzten Ausgabe des Statistischen Jahrbuchs der DDR wurden vom in den Umbruchsmonaten umbenannten Statistischen Amt der DDR die bei den früher veröffentlichten Daten aufgetretenen Verfälschungen stillschweigend korrigiert. Darüber hinaus publizierte die DDR-Statistik hier erstmals ausgewählte Angaben (beispielsweise zum Bruttoinlandsprodukt und der Bruttowertschöpfung) entsprechend westlichen Konzepten. Frühere Ausgaben des Statistischen Jahrbuchs können unter Berücksichtigung der politischen Sensibilität des Erfassungsgebiets und der zugrunde liegenden Konzepte mit Vorsicht ergänzend herangezogen werden.
Das Statistische Bundesamt hat in den 1990er Jahren verfügbare DDR-Primärdaten erschlossen und versucht, diese in eine mit der Bundesstatistik vergleichbare Form zu bringen. Die Ergebnisse wurden in einer „Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR“ mit insgesamt 34 Heften veröffentlicht und darin jeweils die Methoden der Rückrechnung und zur Herstellung der Vergleichbarkeit erläutert. Thematisch liegen damit umfangreiche statistische Angaben zur Entwicklung der Bevölkerung, Erwerbstätigkeit und der Wirtschaft in ihren einzelnen Sektoren, zum Staatshaushalt, zu den privaten Haushalten, zu Bildungswesen und Kultur, zum Gesundheits- und Sozialwesen sowie zur Rechtspflege vor. Darüber hinaus wurden in dieser Reihe die Resultate eines externen Forschungsprojektes zur Entstehung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts (nach westlichen Abgrenzungen) publiziert, auf das noch zurückzukommen sein wird. Diese statistischen Daten liegen jedoch in der Regel nur für ausgewählte Jahre vor, da der Aufwand für das letztlich unvollendete Gesamtprojekt begrenzt werden musste. Allerdings erwies es sich auch bei dieser Form der Umrechnung als schwierig, alle Besonderheiten des DDR-Systems adäquat in das Raster der Bundesstatistik zu übertragen.2 Außerdem widmet sich das letzte Heft der Reihe den methodischen Grundlagen, Kennzifferdefinitionen und der Organisation der amtlichen DDR-Statistik, was für deren Nutzung erforderlich und hilfreich ist.
Die im Bundesarchiv befindlichen Unterlagen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik bestehen inhaltlich aus zwei verschiedenen Teilen. Zum einen handelt es sich um die „reine“ statistische Berichterstattung, die in mehr oder weniger aggregierter Form vorliegt. Zum anderen finden sich Analysen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik zu ausgewählten Problemen, die diese in erster Linie für die SED-Spitze und die Regierung zu erstellen hatte. Diese zumeist nur einem ausgewählten Personenkreis zugänglichen Untersuchungen wurden durch die vorgegebene Aufgabenstellung und/oder die „Schere im Kopf“ bei den Bearbeitern beeinflusst. Deshalb sind sie für die hier interessierenden Langzeitreihen in der Regel eher irrelevant.
Über die angeführten Quellen der amtlichen Statistik hinaus liegen zu einzelnen Themenbereichen Arbeiten aus Forschungsprojekten vor, bei denen Vergleichbarkeit mit westlichen statistischen Daten angestrebt wurde, von denen hier exemplarisch die Untersuchung der Deutschen Bundesbank zur Zahlungsbilanz der DDR erwähnt sei.3 Besonderer Aufmerksamkeit erfreute sich bisher die Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik, worauf im Folgenden exemplarisch eingegangen werden soll.
Den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen lagen in West und Ost verschiedene Konzepte zugrunde. Statt des im Westen gängigen System of National Account (SNA-Konzept) kam in den Ostblockstaaten das sich an Marx‘schen Kategorien orientierende Material Product System (MPS) zur Anwendung. Beim MPS stand die Produktion von Sachgütern im Mittelpunkt, die zusammen mit den ihr verbundenen Dienstleistungen, wie Reparaturen, Transport und Handel, im Gesellschaftlichen Gesamtprodukt erfasst wurde. Dies ist wiederum eine Brutto-Brutto-Größe, das heißt, hier sind die unter Umständen doppelt gezählten Vorleistungen ebenso wie die Abschreibungen enthalten. Nach Abzug des Produktionsverbrauches (Vorleistungen und Abschreibungen) ergab sich das produzierte Nationaleinkommen. Ob damit sämtliche Vorleistungen tatsächlich eliminiert werden konnten, ist fraglich. Gleichwohl ist dies als Nettogröße – etwas vereinfacht – mit dem Nettoinlandsprodukt nach der Entstehung im westlichen SNA-Konzept vergleichbar. Allerdings waren dabei die Leistungen der staatlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen, des Kredit-, Versicherungs-, Wohnungs-, Erziehungs- und Gesundheitswesens sowie der direkten Konsumdienstleistungen nicht enthalten. Also wurde im Unterschied zum SNA-Konzept, welches das gesamte Spektrum der wirtschaftlichen Tätigkeit zu erfassen sucht, ein großer Teil der öffentlichen und privaten Dienstleistungen nicht berücksichtigt.
Schon aufgrund dieser unterschiedlichen Erfassungskonzepte verbietet es sich, die Indikatoren gesamtwirtschaftlicher Leistung, wie das Bruttoinlandsprodukt und das Nationaleinkommen, direkt miteinander zu vergleichen. Auch als Indexreihen, Zuwachsraten und andere Relativmaße sollte man sie nicht gegenüberstellen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Differenz zwischen beiden, nämlich eben jene „unproduktiven“ Dienstleistungen, einen konstanten Anteil am Bruttoinlandsprodukt insgesamt (bzw. am Nationaleinkommen in „entgangener“ Form) einnahm. Da dieser Anteil in der Bundesrepublik tendenziell anstieg, während dies für die DDR nicht im gleichen Maß anzunehmen ist, wären die Ergebnisse einer solchen Gegenüberstellung verfälscht. Darüber hinaus ist bei einem Vergleich der gesamtwirtschaftlichen Leistung ebenso wie bei allen anderen Wertkennziffern die Wechselkursproblematik zu berücksichtigen. Es erscheint im Grunde unmöglich, im Nachhinein einen Wechselkurs der DDR-Mark zu bestimmen, wie er sich unter Marktverhältnissen herausgebildet hätte. Es existieren dazu lediglich Hilfskonstruktionen mit Ersatzindikatoren, die alle mit problematischen Unvollkommenheiten belastet sind. Diese Probleme wollten verschiedene Vorhaben lösen:
Ein Forschungsprojekt des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin hatte sich zum Ziel gesetzt, die gesamtwirtschaftliche Leistung der DDR als Entstehung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts nach westlicher Methodik auf Basis der Primärunterlagen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik zu bestimmen. Die Rückrechnung der Sozialproduktsdaten wurde für die Jahre 1970, 1972 und 1975 sowie 1978 bis 1989 vorgelegt. Doch konnten weder das Preisproblem noch das Wechselkursproblem einer befriedigenden Lösung zugeführt werden, weshalb alle Daten in laufenden Preisen in DDR-Mark vorgelegt wurden. Deshalb sind diese Angaben lediglich für Strukturanalysen verwendbar.4
Bereits früher unternahmen Wilma Merkel und Stefanie Wahl einen ersten Versuch, das Bruttoinlandsprodukt für die DDR im Zeitraum von 1950 bis 1989 nach westlicher Methodik zu ermitteln.5 Unter vereinfachten Annahmen und auf nicht in allen Details belegten Grundlagen bestimmten sie das Bruttoinlandsprodukt in DDR-Mark. Jedoch blieb bei ihnen die Basis für den von ihnen errechneten Umrechnungskoeffizienten zur D-Mark – außer den allgemein gehaltenen, berücksichtigten Faktoren – unklar. Er scheint letztlich nicht plausibel.
Deshalb haben Albrecht Ritschl und Mark Spoerer in einem umfassenderen Aufsatz die Ergebnisse von Merkel/Wahl für das Sozialprodukt der DDR so weit übernommen, wie diese deren gesamtwirtschaftliche Leistung, ausgehend von den vorliegenden DDR-Ziffern unter Berücksichtigung eines geschätzten Dienstleistungsanteils, geschätzt hatten. Für die Umrechnung von DDR-Mark in D-Mark zogen sie allerdings den im Außenhandel der DDR als Korrekturfaktor des offiziellen Währungskurses genutzten Richtungskoeffizienten bzw. den Umrechnungskoeffizienten des Rentenüberleitungsgesetzes heran, die – auf unterschiedlicher Basis entstanden – recht gut übereinstimmen.6 Der Richtungskoeffizient kann infolge seiner Konstruktion und der Art der Entstehung faktisch als ein kommerzieller Wechselkurs zwischen der DDR-Mark und der D-Mark betrachtet werden. Daher sind die Angaben von Ritschl/Spoerer für einen rohen Vergleich der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR mit der der Bundesrepublik durchaus geeignet.
Außerdem legte Jaap Sleifer eine Schätzung vor, die allerdings aufgrund ihrer Datengrundlage problematisch ist.7
Sie beruht auf den physischen Produktionsangaben, die von der DDR im Statistischen Jahrbuch veröffentlicht wurden. Da Reihen mit negativ angesehener Entwicklung in der Regel nicht mehr publiziert wurden, weist dieses Sample einen systematischen Fehler auf, und die darauf basierende Schätzung fällt tendenziell zu positiv aus.
Nicht zuletzt hat Gerhard Heske auf Basis der internen Unterlagen der DDR-Statistik die Entwicklung des ostdeutschen Bruttoinlandsproduktes in D-Mark berechnet.8 Auch er war gezwungen, seiner Schätzung bestimmte Annahmen zugrunde zu legen, die nicht alle hinreichend mit Archivalien belegt werden (können).
Alle diese Arbeiten haben methodisch jeweils ihre Vor- und Nachteile und weisen Unzulänglichkeiten auf, sodass man sich je nach dem Untersuchungsziel entscheiden muss, welche man heranzieht. Gleichwohl erlauben sie grundsätzlich Aussagen zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR. Dieser Befund gilt aber nicht allein für die DDR, denn auch für das 19. Jahrhundert stößt die Bestimmung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an Grenzen der Quellen und Methodik.
Insgesamt lässt sich resümieren, dass sich die DDR prinzipiell in die Langzeitreihen für Deutschland einordnen lässt, jedoch aufgrund der Qualität, Validität und Vergleichbarkeit im Einzelfall geprüft werden muss, inwieweit eine Einbindung in eine gesamtdeutsche Statistik möglich ist.


Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Quelle: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, 2. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022.

Anmerkungen

  1. Auf die in verschiedenen Sphären geltenden unterschiedlichen Preise für die gleichen Produkte und die daraus folgenden Probleme kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.
  2. Die Umrechnung der Erwerbstätigen aus der DDR-Statistik auf die Wirtschaftszweigsystematik der Bundesstatistik hinterlässt beispielsweise offene Fragen, vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Erwerbstätige 1950 bis 1989 (Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 14), Wiesbaden 1994. Laut Auskunft des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg wurden die Beschäftigten in staatlichen Einrichtungen des Gesundheitsund Veterinärwesens, was entsprechend den Eigentumsstrukturen in der DDR die große Mehrheit in diesem Sektor darstellte, den Gebietskörperschaften und damit dem Staat zugerechnet. Nach dieser Logik hätte das auch bei großen Teilen anderer Sektoren geschehen müssen. Zudem erschwert dies Aussagen darüber, was unter dem steigenden Staatsanteil an den Erwerbstätigen konkret zu verstehen ist, da das Statistische Bundesamt nicht im Einzelnen ausgewiesen hat, was darunter subsumiert wurde.
  3. Deutsche Bundesbank: Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Frankfurt a. M. 1999.
  4. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 33: Entstehung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts 1970 bis 1989. Ergebnis eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsvorhabens, Wiesbaden 2000.
  5. Vgl. Wilma Merkel/Stefanie Wahl: Das geplünderte Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949 bis 1989, Bonn 1991.
  6. Vgl. Albrecht Ritschl/Mark Spoerer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997 /2, S. 27– 54.
  7. Jaap Sleifer: Planning Ahead and Falling Behind. The East German Economy in Comparison with West Germany 1936 – 2002, Berlin 2006.
  8. Gerhard Heske: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950 –1989. Daten, Methoden, Vergleiche (HSR-Supplement No. 21), Köln 2009.